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Die Antwort einer kunsthochschule auf das aktuelle Theater

Von Matthias Nawrat — Schon lange geht es im The­ater nicht mehr nur um den Text. Die szenis­chen Kün­ste – Schaus­piel, Büh­nen­bild, Tanz, Musik und andere –fliessen ineinan­der und erzeu­gen Emer­gen­zen. Etwas, was aus ein­er einzel­nen Diszi­plin niemals hätte entste­hen kön­nen. Wie kann eine Kun­sthochschule junge Kün­stler auf die Entwick­lun­gen der heuti­gen Szene vor­bere­it­en? Der Mas­ter of Arts in The­ater mit der Ver­tiefung Scenic Arts Prac­tice der Hochschule der Kün­ste Bern (HKB), ein Departe­ment der Bern­er Fach­hochschule, hat genau dieses Ziel. Die drei Studieren­den Regine Fritschi, Mar­ius Kob und Peter Zum­stein geben einen Ein­blick.

Eine naive Vorstel­lung vom The­ater: Man studiert Schaus­piel oder Pup­penthe­ater oder Tanzen, und dann macht man sein Leben lang nur das, was man gel­ernt hat.

Regine: Ich habe eine Aus­bil­dung als klas­sis­che Tänz­erin gemacht. Zunächst habe ich ein klas­sis­ches Engage­ment in Basel gehabt, dann über zehn Jahre lang Tanzthe­ater gemacht, dann bin ich weit­er ins Schaus­piel gerutscht. Das war ein eher organ­is­ch­er Über­gang, weil mich Fig­uren inter­essierten. Es gibt heute keine fes­ten Gren­zen. Seit Sep­tem­ber 2009 studiere ich im Mas­ter­stu­di­en­gang Scenic Arts Prac­tice an der HKB, wo Tänz­erIn­nen, Schaus­pielerIn­nen und andere Per­formerIn­nen zusam­menkom­men. Das Inno­v­a­tive an diesem Stu­di­en­gang ist, dass er eben das auf­fängt, was sich in den let­zten Jahren am The­ater ereignet hat. Es gibt natür­lich immer noch klas­sisch arbei­t­ende The­ater. Aber sehr viele Leute arbei-ten heute zunehmend trans­diszi­plinär.

Mar­ius: Eigentlich finde ich, es kommt sog­ar rel­a­tiv spät. Dafür, dass es auch an den grösseren Häusern schon so sehr anders ist. Ich habe vor dem Mas­ter Fig­urenthe­ater stu-diert und habe auch schon zuvor freies The­ater gemacht. Es ist eigentlich schon länger so, dass man über­greifend arbeit­et. In der freien Szene sowieso.

Warum fängt ein Studi­um nicht von Anfang an so an, son­dern erst beim Mas­ter?

Peter: Ich möchte anmerken, dass ein so-lid­er Unter­bau für diesen Mas­ter­stu­di­en­gang von Vorteil ist. Also ein Stu­di­en­gang, der die Grund­la­gen ein­er Diszi­plin auf­baut wie etwa ein Bach­e­lor in Schaus­piel oder Tanz.

Wie bere­ichert der Mas­ter an der HKB bere­its vorge­bildete Kün­stler? Ist es diese beson­dere Trans­diszi­pli­nar­ität?

Peter: Mich inter­essieren erst­mal ver­schiedene The­ateräs­thetiken. Und da ist das Trans­diszi­plinäre nur ein Teil davon. Es gibt ein Vor­lesungsverze­ich­nis mit soge­nan­nten Tool­box­es, die von ver­schiede­nen Dozieren­den und Kün­st­lerIn­nen ange­boten wer­den. Oft­mals hat das bei mir über Name­drop­ping funk­tion­iert. Ein Name hat mich inter­essiert, und ich habe mich angemeldet. Ein Kurs von Viviane de Muynck ist ein gutes Beispiel, wie wir auf die neue The­ater­land­schaft vor­bere­it­et wer­den. Das hat eben auch mit der Trans­diszi­pli­nar­ität zu tun. Das hat aber auch … na ja, erzähl du mal ein biss­chen …

Regine: Viviane de Muynck zeigt uns in ihrem Kurs eigentlich vor allem auf, wie sie gear­beit­et hat. Wir haben am ersten Tag etwas präsen­tieren müssen, was uns momen­tan umtreibt. Ich habe ein Stück Musik vorgestellt, das mich ger­ade sehr berührt. Andere haben kurze Texte vorgestellt oder andere Dinge. Wir haben Zeitun­gen dazugenom­men. Und schnell hat sich gezeigt, was für The­men sich da verbinden. Wir waren dann schnell bei dem The­ma Berge und Müt­ter. Und jet­zt kom­ponieren und kol­lagieren wir das. Und in diesem plöt­zlichen Aufeinan­dertr­e­f­fen von ver­meintlichen Zufällen – wahrschein­lich hat das etwas mit Psy­cho­analyse zu tun (lacht) – in diesem Zwis­chen­raum, passiert plöt­zlich etwas. Und öffnet einen Blick auf etwas Neues. Das macht Spass.

So arbeit­en heute immer mehr Leute an The­atern?

Peter: Das verän­dert sich natür­lich nicht erst jet­zt, son­dern schon seit etwa 30 Jahren. Mit dem ganzen Aufkom­men der freien The­ater und so weit­er und sofort. Und da gibt es auch eine Ver­schiebung weg vom – das ist aber auch ein alter Hut jet­zt – vom eigentlichen Textthe­ater. Es ist ein­fach viel mehr möglich, als früher möglich war. Man erzählt nicht ein­fach den Faust auf der Bühne, son­dern da kommt ganz viel dazu.
Mar­ius: Oder ganz viel vom Faust geht weg … (lacht)

Der Mas­ter bietet also viel Frei­heit zum Herum­ex­per­i­men­tieren. Kann man da nicht auch in einem Chaos ver­lorenge­hen?

Regine: Man muss vielle­icht auch sagen, dass jed­er Studierende am Schluss ein Pro­jekt abgeben muss, das rel­a­tiv viele ECTS-Punk­te bringt. Es ist auch nicht so, dass man alles machen kann, was man will, man muss gewisse The­o­riemod­ule besuchen, etwa zum The­ma Pro­jek­t­man­age­ment, Medi­en­wis­senschaft oder Büh­nen­tech­nik. Es gibt also eine ziem­lich klare Struk­tur, und dann gibt es eben auch eine grosse Menge dieser Sem­i­nare, die man frei wählen kann.

Ihr bekommt auch einen Ein­blick in das wis­senschaftliche Arbeit­en. Kun­st und Forschung, wie geht das zusam­men?

Peter: Die Idee dahin­ter ist, dass wir auch kün­st­lerisches Forschen betreiben kön­nen und sollen. In unserem Arbeit­en und auch zukünf-tig. Das finde ich nach wie vor ein schwieriges Ding: über­haupt mal eine Frage zu for­mulieren, die kün­st­lerisches Forschen impliziert. Und was heisst denn kün­st­lerisches Forschen über­haupt? Wir haben ja keine Resul­tate, die sich in Tabellen und in Grafiken und gescheit­en Inter­pre­ta­tio­nen able­sen lassen, son­dern es sind dann meis­tens sehr per­sön­liche Erken­nt­nisse. Aus­drücke.

Regine: Wie das ausse­hen kann, zeigt aber das neueste HKB-Jahrbuch. Da wer­den alle Forschung­spro­jek­te vorgestellt, und da kann man dann vielle­icht an konkreten Beispie­len sehen, wo sich Kun­st und Wis­senschaft berühren.

Wie ist es, mit Kün­st­lerIn­nen zu arbeit­en, die eine andere Vor­bil­dung haben? Da tre­f­fen doch Wel­ten aufeinan­der.

Mar­ius: Also ich hat­te im Som­mer einen Kurs, der ging eine Woche lang und hiess «Aare under Water», und war von dem Y‑Institut der HKB, also dem Insti­tut für Trans­diszi­pli­nar­ität. Da waren glaube ich drei bildende Kün­stler, eine The­ater­forscherin, eine Päd­a­gogin und ich als Fig­uren­spiel­er. Wir hat­ten alle das­selbe Equip­ment: Video- und Fotokam­eras und Tonauf­nah­megeräte. Ausser­dem hat­ten alle das gle­iche The­ma: «Aare under Water». Jed­er musste damit zurecht kom­men, was vorgegeben war. Jed­er hat­te seine Idee, und ein ander­er hat ihm dann zugear­beit­et, um diese Idee zu ver­wirk­lichen. Das war span­nend, die dienende Funk­tion für einen anderen Kün­stler zu übernehmen und die Idee voranzubrin­gen und dann zu sehen, wie der das macht. Das war wirk­lich sehr lehrre­ich, zu sehen, wie ein bilden­der Kün­stler von densel­ben Mit­teln aus­ge­ht, wie aber was ganz anderes dabei her­auskommt als bei einem selb­st.

Ihr habt ja jet­zt alle Drei schon auf dem freien Markt gear­beit­et. Wie ist es, jet­zt wieder in so ein­er Insti­tu­tion zu sein, wo man viele Vor­gaben hat und ECTS-Punk­te sam­meln muss?

Mar­ius: Manch­mal nervt es schon, wenn ich zum Beispiel weiss, ich muss jet­zt noch die-sen Kurs bele­gen, obwohl es mich eigentlich über­haupt nicht inter­essiert. Aber es hält sich eigentlich noch in Gren­zen. Weil das Kur­sange­bot doch rel­a­tiv gross ist.

Peter: Wenn du nicht an der HKB wärst, dann hättest du gar kein Zugang zu solchen Sachen. Es gibt wahrschein­lich viel mehr Möglichkeit­en, als ich auss­chöpfen kann. Weil die Zeit dafür gar nicht da ist in diesen zwei Jahren. Ich per­sön­lich wurde gewis­ser­mayyen aus ein­er Lethargie geris­sen. Und beschäftige mich jet­zt endlich mal wieder mit Sachen. Und zwar auch intellek­tuell. Das ist für mich total wichtig, ich habe hier bei­de Möglichkeit­en. Mich intellek­tuell wie auch physisch einzubrin­gen. Ich möchte mich in bei­den Kreisen bewe­gen kön­nen.
Regine: Den the­o­retis­chen Diskurs finde ich auch span­nend. Weil ich von der Prax­is komme. Und es ist ein­fach so: Wenn du im Prozess bist, da geht es von ein­er Pro­duk­tion zur anderen. Und du vol­lziehst diese Prozesse, oder bess­er: sie wer­den an dir oder mit dir vol­l­zo­gen, und du nimmst sie nicht bewusst wahr. Ich habe jet­zt zwei sehr gute the­o­retis­che Sem­i­nare gemacht, und dieses Erken­nen, Stan­dortbes­tim­men, etwas Benen­nen, das ist total wichtig und gibt auch wieder neue Schaf­fen­sim­pulse.

Jed­er von Euch hat einen Men­tor, eine Men­torin, der/ die Euch bei der Arbeit an Eurem Abschlusspro­jekt begleit­et …

Regine: Ja, man kann ihn sich selb­st wählen. Auch von ausser­halb der Hochschule.

Peter: Es ist dann die Sache jedes Studieren­den, wie er diese Zeit, die er mit dem Men­tor zur Ver­fü­gung hat, organ­isiert. Ich dachte anfangs, ich möchte jeman­den aus der Schweiz, damit ich nicht lange reisen muss. Mit­tler­weile ist klar: Ich werde für vier Wochen nach Bel­gien fahren. Das war auch ein Anliegen von mir, als ich diesen Mas­ter anf­ing. Ich wollte mein Net­zw­erk öff­nen. Es hat­te sich immer mehr auf Bern zurück­ge­zo­gen. Und ich möchte mit Leuten arbeit­en, die mir neue Impulse geben kön­nen. Und das erhoffe ich mir jet­zt auch von meinem Men­tor.

Was gehört denn alles zu diesem Net­zw­erk dazu? Sind es nur die Mit­studieren­den?

Regine: Einige von uns machen zum Beispiel mit dem Schweiz­er Regis­seur Samuel Schwarz ein gemein­sames Pro­jekt. Eine Kol­le­gin geht im Rah­men dieses Pro­jek­ts nach Chi­na. Im Rah­men des Mas­ters gibt es aber auch einen offiziellen Aus­tausch mit den Hochschulen in Zürich und Ver­scio.

Peter: Die drei Schulen sind zum Mas­ter-Cam­pus-The­ater Schweiz zusam­mengeschlossen. Dem­nächst wird auch Lau­sanne dazukom­men. Und da ist das Feld der Möglichkeit­en natür­lich sofort viel gröss­er. Ich habe sehr oft Kurse in Zürich und in Ver­scio besucht. Bei mir wurde es schon fast zum Prob­lem …

Regine: Man darf nur 20 ECTS-Punk­te ausser­halb der HKB sam­meln …

Peter: Eben. Und ich habe schon viel zu viele. Jeden­falls nochmals zurück zum Net­zw­erk. Natür­lich sind das erst­mal die Stu­den­ten. Aber es sind dann eben auch die Stu­den­ten in Ver­scio und die Stu­den­ten in Zürich. Und es sind auch die Dozen­ten, die hier, in Zürich und in Ver­scio, unter­richt­en. Ich würde jet­zt nicht sagen, das ist ein dicht­es Net­zw­erk, sodass man nicht durch die Maschen fall­en kann. Aber es ist trotz­dem gut, Leute zu ken­nen. Und vielle­icht kann dann später auch was daraus entste­hen.

Regine: Da gibt es auch promi­nente Beispiele, etwa das Black Moun­tain Col­lege in den USA, wo sich viele Leute getrof­fen und später Pro­jek­te zusam­men gemacht haben. Das gibt es immer wieder. Es muss nicht sein. Aber es kann sein. Es ist gut, dass eine Hochschule einem diese Möglichkeit­en zugänglich macht. Ein gutes Net­zw­erk ist wahrschein­lich in allen mod­er­nen Kün­sten sehr wichtig.

Bild: Die drei Studieren­den des Mas­ters in The­ater mit Ver­tiefung auf Scenic Arts Prac­tice von links nach rechts: Peter Zum­stein, Mar­ius Kob, Regine Fritschi / Foto: Matthias Nawrat

ensuite, März 2010