Von Peter J. Betts — Die Basis der Politik ist eigentlich Kultur. Die Kultur der Einzelnen und der Gemeinschaft. C’est la vie. Weltweit Abermillionen von Vertriebenen, die in Lagern, Slums oder bei Verwandten, Befreundeten – oft ebenfalls unter sehr prekären Verhältnissen – ihr zunehmend kümmerliches und hoffnungsloses Leben fristen. Das durch Setzen unserer Prioritäten konsequente Reduzieren der Biodiversität. Die zunehmende Kluft zwischen gigantischem Reichtum und totaler Armut und die sorgfältige Pflege dieser Kluft. Unser Beitrag am beschleunigten Klimawandel. Das repetitive Schönreden von Verantwortlichkeiten, um Verhaltensänderungen bis über die jeweiligen Amtszeiten hinauszuzögern. Das Instrumentalisieren von Formen des Glaubens und von Ideologien. Die Pflege der Abfallproduktion. Der globale Kult der grenzenlosen Gewinnmaximierung ohne Rücksicht auf Verluste. Die Frage, was zu bewahren, was zu ändern ist … Themen der globalen und lokalen Politik: der Kultur, die ihr zugrunde liegt. Fragen der Kultur der Einzelnen und der Gemeinschaften, die auf mehr oder weniger demokratischem Weg die Verantwortung an Aushängeschilder delegieren, um sich in wohliger Ratlosigkeit zu wälzen. Auch der Wille, Problemlösungen zu suchen, zu prüfen, zu verbessern und sie umzusetzen, im Kleinen und im Grossen, ist eine Frage der Kultur. Kunst, auch eine Frage der Kultur der Einzelnen und der Gemeinschaften, kann Wege erschliessen, auf anderen Ebenen diese Themen anzugehen, nötige Verhaltensänderungen zu verstehen und zu wollen. Unter dem Namen «HUGO hat Töne» bildete sich ein Trio, das an einem Novemberabend, als vormittags auf dem Bärenplatz Fastnachtswein angeboten wurde, im Naturhistorischen Museum in Bern ein Konzert gab. Drei Männer in einem Raum der Ausstellung «c’est la vie» auf oder neben dem Podium, Musikinstrumente, eine Computereinrichtung. Davor ein Mikrophon von Radio DRS – möglicherweise gibt es einmal eine Radiosendung zu hören. Dahinter ein Bildschirm. Darüber, aber auch links und rechts an der Wand, die rote Leuchtschrift: «Männer tanzen vor. Frauen wählen.» Sie gehört zur Ausstellung und deutet auf geteilte Rollen mit gemeinsam zu verantwortenden Resultaten hin. Hinter den Zuhörenden eine betretbare Kunststoffplastik eines befruchteten Eis im Morula-Stadium, darin ist auf einem Bildschirm etwa zu sehen, wie ein Küken oder ein Reptil schlüpft, ein roter Blattkäfer Eier legt. Die drei Musiker: Daniel Schümperli (Molekularbiologe, Klarinette); Lukas Frey (Geograph, Kon-trabass), Rudolf von Steiger (Physiker, Computer). Drei Künstler, drei Naturwissenschaftler, drei Musiker und eine komplexe Aufgabe. Das Trio hat sich einen Namen gemacht mit musikalischen Interpretationen wissenschaftlicher Daten. Originalitätshetze für ein versnobtes Publikum? Das Publikum sieht nicht aus wie die Crème de la Crème des Kulturkonsums, die Drei haben ebenfalls keinen Schickimicki-Touch. Dennoch: des Kaisers neues Kleid, Version Winteranfang 2009? Seit 2001 setzen die Drei in ihren Aufführungen verschiedenste Arten biologischer Daten, vorab DNA-Codes des menschlichen Genoms, in Computermusik um. Das neue Programm «HUGO in the sky (no diamonds)»orientiert sich an gesammelten Daten aus der Atmosphäre und dem Universum. Sky, not heaven. Daniel Schümperli und Lukas Frey improvisieren auf ihren Instrumenten nach bestimmten, auf das jeweilige Stück ausgerichteten Spielkonzepten zu den von Rudolf von Steiger mit dem Computer erzeugten Tonfolgen. Sind komplexe Zusammenhänge mit binären Systemen glaubwürdig ausdrückbar? Wenn beispielsweise die Lesbarkeit eines Romans von rund dreissig Zeichen abhängig ist, ist die Kreativität der Lesenden ebenso sehr gefragt, wenn sie die realen Zusammenhänge aus scheinbar vertrauten Codes verstehen wollen: die Ein-Eindeutigkeit von Buchstaben wird seltsamer Weise nicht angezweifelt. Während der Aufführung, vor den einzelnen Stücken, erklärt das Trio verschiedene Aspekte der Erhebung und wissenschaftlichen Auswertung der Daten sowie ihrer musikalischen Umsetzung. Keine Schulmeisterei. Kein erhobener Zeigefinger. Keine Anbiederung. Keine pseudointellektuellen Höhenflüge. Keine künstlerische Pose. Bevor wir das Stück über die mittlerweile zehnjährige, also alternde Störchin Max hören, erfährt man, dass dem Jungvogel seinerzeit ein Sender eingebaut wurde, der die Wissenschaftler über die Wanderungen des Tieres während fast eines Jahrzehnts orientieren sollte: Auf dem Bildschirm sehen wir das Anbringen des Senders, wir sehen, wie der schlafende Jungvogel ins Nest zurückgetragen wird und Max auf die Reise geht. Ein gerafftes Diagramm, zum Teil sehr lückenhaft, veranschaulicht ähnliche, aber entscheidend unterschiedliche Kurvenpakete während der einzelnen Jahre. Einige der Jahresdiagramme sind praktisch nicht auswertbar: Die Batterie des Senders hatte gestreikt, und es dauerte eine Weile, bis eine neue eingesetzt werden konnte. Im ersten Jahr sucht Max auf der Rückreise aus Algerien in Spanien sehr lange, bis sie den Weg zum Geburtsort zurückfindet. Später hat sie die Reiseroute intus. Ebenfalls im ersten Jahr flog sie bis fast in die Mitte Algeriens, dann hatte sie gemerkt, dass Marokko durchaus ausreicht. Mit der Zeit rücken die Fernziele näher – Spanien. Eine Reihe wärmerer Jahre? Die alternde Störchin, vielfache Mutter, die nicht mehr so weit zu fliegen vermag? Fragen bleiben offen und bewegen die Phantasie (wohl auch die Vorstellungskraft der Zuhörenden im Konzert). Zeit und Ort sind die Parameter, nach denen die Töne der Computermusik gestaltet worden sind. Kontrabass, gezupft, gestrichen und die Klarinette illustrieren die Ereignisse: schrille hohe Töne für das eifrige Hinundhersuchen etwa. Auf dem Bildschirm können die Wanderungen des ersten und der beiden letzten Jahre verfolgt werden. Ich habe kann mich nicht als Musikkritiker aufspielen wollen. Aber, was ich wahrnehme: Max ist mir nahe, ich erlebe die Probleme, Herausforderungen, Gefahren eines Lebens, das durch das zwangsweise Emigrieren-Müssen bestimmt wird. Ein ernstes Thema, das über Max hinausgeht. Das Trio streicht den Ernst der Zusammenhänge auch im grösseren Rahmen nicht heraus: Humor, Sachlichkeit und die selbstverständliche und überzeugende Annahme, dass die Zuhörenden zu denken bereit sind, herrschen vor. Das Emotionale ist in mir von selbst entstanden. Von selbst? Es ist ein Ganzes: Bild, Ton, Wort, wohl auch Ort und der Kontext der Veranstaltung und natürlich die Zuhörenden als Partnerinnen und Partner. Die Reise der Störchin, eine datenmässige, klangliche und bildliche Reise in der unteren Erdatmosphäre. Raum und Zeit. Ohne jegliche Sphärenklänge, schlicht, aber deutlich geht die Reise mit neuen Stücken weiter, erst ins erdnahe «Weltall», dann zu unserem Sonnensystem, dann zur Sonne und ihren Eruptionen selbst – keine wirklich weite Reise ins All und immer in einem sehr nachvollziehbaren Kontext mit der Erde – dann weiter mit einem Swiss-Jet von Zürich nach Asien, der Analyse von Eisbohrkernen über viele Millionen Jahre und Piccards Erdumrundung im Heissluftballon zurück in die Erdatmosphäre. Das Publikum lacht, wenn beiläufig und ohne gedankenschwanger aufgesetzte Pause erwähnt wird, Piccard sei am Schluss seiner Weltreise in der Libyschen Wüste gelandet: Welches Thema auch angeschnitten worden ist, das Publikum denkt mit, folgt den Zusammenhängen von Raum und Zeit, von Perspektiven unserer Gattung und vom Handlungsbedarf aller. Kunst als Botschafterin? Das Anliegen des Trios ist erfüllt: «Diese Kombination sinnlicher und faktischer Informationen eröffnet neue Einblicke in wissenschaftliche Gebiete, die dem breiten Publikum sonst wenig vertraut sind.» Ich bin überzeugt, dass die meisten Besucher etwas anders nach Hause gingen, als sie ins Museum gekommen waren. «HUGO hat Töne» veranschaulicht auf leicht nachvollziehbare Art: Die Basis der Politik ist eigentlich Kultur. Die Kultur der Einzelnen und der Gemeinschaft. C’est la vie.
Foto: zVg.
ensuite, Januar 2010