Von Peter J. Betts - Die Flagge streichen? Bis jetzt habe ich immer behauptet, Kultur sei alles, was nicht Natur ist. Ich bin geneigt, dies noch immer (etwas leiser vielleicht?) zu behaupten. Nicht, weil ich heute in der «Mattinata» gehört hatte, Cecilia Bartoli sei wirtschaftswirksam (ein Begriff, der offenbar zum Modeausdruck zu werden droht), auf Wachstum ihres Marktwertes erfolgreich ausgerichtet, und ihr Gesang gehe vor allem direkt ins Herz; nicht in meines übrigens. «Und», nicht: «aber». Nicht, weil das meines Erachtens unbeschreiblich dumme Leuchtturmgeschwafel (zum Teil auf dem gleichen Sender) nach wie vor im Schwange ist und «Kultur» hüben und drüben als wesentliches und wirtschaftswirksames Element für den Standortvorteil zwischen den Schweizer Städten in ihrem Wettbewerb bis aufs Messer und als sicherste Partnerin der Touristikbranche verschrieen wird. Wirtschaft, Wachstumsmanie, Hyperkapitalismus, Touristik, Eventitis, irreale Zahlengläubigkeit, allein am Potenzial zur Geldvermehrung gemessener Wert von Kreativität sind sicher weder Natur noch naturgegeben, gehören also zur zeitkonformen Kultur. Nicht, weil Kunstschaffende auch heutzutage – man denke etwa an die Renaissancepäpste und Michelangelo – sich in den Dienst der potentesten Machthabenden (sprich: Geldhabenden) stellen und dabei glauben, mit ihnen zu spielen. Nicht, weil auch «Kulturförderung» ökonomisiert ist und «Kulturschaffende» das akzeptieren; weil sie, durchaus im Einverständnis mit den Ködernden, willenlose Marionetten im Konsumballett geworden sind. Ich bin mit meiner Behauptung etwas ins Wanken geraten, weil ich heute, drei Tage vor dem offiziellen Frühlingsanfang drei Kohlmeisen auf unserem Balkon zugeschaut habe. In den letzten paar Tagen habe ich mich nach dem Schmelzen des Raureifs unschuldig(?) an den sich öffnenden Krokussen, den Schnee- und Märzglöckchen, den Leberblümchen, den Adonisröschen und den ersten beiden Huflattichblümchen erfreut. Noch weit im Februar zurück, beim Kaffee auf der Dachterrasse des Restaurants der Grossen Schanze, habe ich an einem überraschend warmen Tag den Tanz zweier balzender Täuberiche beobachtet, wie der eine offenbar das Rennen machte, auf der breiten Brüstung die zur Bereitwilligkeit bewegte Taube vögelte, während der abgewiesene Bewerber, anthropomorph interpretiert, neidisch dem, nicht weniger anthropomorph interpretierten, brutalen und äusserst raschen Vorgang zuschaute, bevor die drei Vögel nach insgesamt etwa zwei Minuten (Werberituale eingeschlossen) sang- und klanglos davon flatterten, während alle übrigen Gäste auf der Terrasse in ihren Tassen rührten, daraus schlürften, miteinander worteten, in die Textbücher starrten, das Spiel auf der Brüstung offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen haben. Das übliche Milchglas vor den Augen oder: «es gehört sich einfach nicht, voyeuristisch in den Intimbereich anderer vorzudringen», anthropomorph betrachtet, denn Tauben haben sicher kein Schamgefühl – und offenbar wohl auch kein Bedürfnis nach Zärtlichkeit. Ich hatte mich also in den letzten paar Tagen an der Fruchtbarkeitsorgie, anthropomorph interpretiert, erfreut, an den Blümelein, den Bienchen, dem eifrigen Gezwitscher der Vögelein, den betörenden Düften, den linden Lüften. Über die Kohlmeisen hatte ich mich schon während des Winters über gefreut, wie sie possierlich in die Storenkästen hineinschlüpften, die Styropordichtung loshackten, die sich in Sicherheit wähnenden Asseln am Winterschlafen zusammen mit Styroporkrümeln herauspickten. Die Krümel frassen sie nicht. Possierliche, liebenswürdige Tierchen, die Meisen. Und heute um viertel nach sieben, die Sonne hatte schon fühlbar aufgewärmt, sah ich auf unserem Balkon, wie sich zwei Meisen, ineinander verflochten, auf dem Betonboden tummelten, mal das eine Vögelein unten, mal das andere, während ein drittes Vögelein auf dem schmalen Geländer sass und zuschaute. Aha, dachte ich, das Liebesspiel, Frühling halt. Dann spreizte die eine Meise, sie lag gerade auf dem Rücken, die Flügel auf den Boden, die andere – küsste sie in den Hals, die untenliegende zuckte, dann nicht mehr. Der Sieger flog auf, umkreiste die Zuschauerin, die beiden flatterten davon, wippten zusammen putzig auf den Bambuszweigen, und ich warf den Toten hinunter ins Blumenbeet. Ich kann die Geschlechter bei Kohlmeisen nicht unterscheiden: Vielleicht waren es drei Männchen oder eines oder drei Weibchen oder … Das Ganze hatte keine zwei Minuten gedauert. Beim Vorspiel war ich nicht zugegen gewesen. Natur? Anthropomorpher gefragt: Haben die Meisen von uns gelernt? Oder gar – wirtschaftswirksame – Kultur? Wenn sie Asseln oder Maden fressen, stört das mich, im Gegensatz zu den Asseln oder Maden, nicht. Vielleicht hat es zu wenig Asseln, und Maden oder Raupen sind noch nicht ins Greifbare aufgestiegen? Überlebenswichtiger Konkurrenzkampf? Ich weiss auch, dass Raubvögel kleinere Vögel fressen. Ich schaue durchaus fasziniert dem taktisch hochstehenden Luftkampf zu zwischen einem hungrigen Milan und einem Rabenelternpaar, das kürzlich geschlüpfte Gelege, meist erfolgreich, verteidigend. Ich weiss auch, dass im Winter viele Vögel sterben und die Fachleute uns raten, sie nicht zu füttern, damit sie nicht von Menschen abhängig werden. Es fällt mir schwer, aber ich halte mich daran, weil ich die Logik nachvollziehen kann. Ich kann mir vorstellen, mit einem Metzger befreundet zu sein; ich esse manchmal sehr gerne Fleisch. Aber putzige Meisen, die putzige Meisen töten? Anthropomorphe Meisen? Man komme mir jetzt nicht mit Konrad Lorenz und seiner Gefolgschaft – hier geht es um etwas anderes. «Denn wovon lebt der Mensch? Indem er stündlich/ Den Menschen peinigt, auszieht, anfällt, abwürgt und frisst./ Nur dadurch lebt der Mensch, dass er so gründlich/ Vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist» («Zweites Dreigroschenfinale»). Ich verbitte mir, dass mir Meisen den Spiegel vorhalten. Haben die Meisen uns schon zuviel abgeguckt? Sind die Tiere am Ende von allem Anfang an, auch ohne unser Vorbild, nicht besser als wir? Und da lamentiere ich, dass unter Kulturschaffenden keine Solidarität herrscht? Es erstaunt mich, dass ein auf kostenreichste Weise errichteter und ständig mit enormen Mitteln unterhaltener Leuchtturm nie ein Zentrum wird, wo neues, ungesichertes, Kulturschaffen unter dem Schutz der gesicherten und vergoldeten «Kulturgüter» ohne permanente Selbstausbeutung entstehen kann? Den schonungslosen Krieg zwischen den einzelnen Leuchttürmen nehme ich als Selbstverständlichkeit an? Ich schwafle, dass das Fördern des zeitgenössischen Kulturschaffens die Schöpfungskraft der Menschen, aller Bürgerinnen und Bürger, fördert? Ich mache mich lächerlich mit der Überzeugung, das Fördern professioneller Kulturschaffender würde zu schöpferischen Schüben aller im Alltag werden? Ich plädiere für Kunst im öffentlichen Raum, und zwar nicht als Kosmetik, um über Bausünden hinwegzutäuschen? Brecht hat das trefflich formuliert: «Nur dadurch lebt der Mensch, dass er so gründlich/ Vergessen kann, dass er ein Mensch doch ist.» Wie naiv kann man sein, zu meinen, das Menschlicher-Werden würde zu gegenseitigem Verstehen-Wollen führen? Natürlich ist man scharf darauf, einander besser, vollständiger zu verstehen, man will das (gegenseitig) – aber nur, damit man beim Gegenüber die Stelle müheloser findet, wo der Bruderkuss in die Ewigkeit oder wenigstens das Krematorium führt. Handelt es sich bei mir nur um eine Frühlingsdepression? Gut, die linden Lüfte sind erwacht, aber ich zweifle sehr am tröstlichen Liedtext: «Nun wird sich alles, aaahahalles weeenden.» Nichts wird sich wenden. Auch im kommenden Winter nicht. Die Flagge streichen?
Foto: zVg.
ensuite, April 2010