Von Barbara Roelli — Sie sehen aus wie Spaghetti – sind hellbraun, haben eine mehlige Konsistenz, und den typisch erdig-süssen Geschmack von Marroni: Die Vermicelles. Auch wenn sie sich scheinbar als wilder Haufen auf dem Dessertteller ausbreiten – sie sind nicht wild. Sie sind gezähmt, durch Menschenhand in eine künstliche Form gepresst. Die Marroni, aus denen Vermicelles gemacht sind, das sind die echten Wilden; die mit den stacheligen Panzern, mit denen sie ihre Feinde abschrecken. Ihr kostbares Inneres wissen sie zu schützen, ummanteln die Frucht mit Stacheln, und machen sie so noch unantastbarer und begehrenswerter für den Menschen. Was nicht einfach zu finden ist, und irgendwo verborgen liegt, das reizt den Menschen. Der Jäger in ihm will entdecken und erobern. Und dieser Urinstinkt erwacht von neuem im Herbst, wenn die Sonne golden scheint, der Himmel tiefblau leuchtet, und die Fernsicht gut ist. Dann zieht der Mensch in die gelben Wälder und forstet den Boden nach Pilzen ab; scheucht das Reh vor seine Flinte, und sucht im dichten Herbstlaub nach den edlen Kastanien, den Marroni. Und wenn er sie gefunden hat, muss er sich zuerst geschickt anstellen, damit er die kräftig braunen Früchte aus ihrem stacheligen Panzer befreien kann: Dafür drückt er mit seinen Schuhen den Panzer von den Früchten, und sie liegen ihm zu Füssen. Bis drei Stück pro Panzer gewinnt der Mensch so aufs Mal.
Eine weiche Form haben sie, die Marroni. Sie erinnern an Tropfen, und liegen gut in der Handfläche. Das kräftige Braun glänzt an der bauchigen Stelle — genau dort, wo der Mensch einen Schlitz in die Schale ritzt, bevor er die Marroni im Ofen oder in der speziell dafür gefertigten Pfanne brät. In der Hitze springt die braune Schale auf und endlich kommt das gelbe Fruchtfleisch zum Vorschein. Dann hat er es geschafft, der Mensch: Die Marroni geben ihr Innerstes Preis. Und dieses wertvolle Innere glasiert er mit geschmolzenem Zucker, und verkauft die süssen Seelen als «Marrons Glacés» für teures Geld.
Am wenigsten an ihren Ursprung erinnern die Marroni, wenn sie weich gekocht und zu Püree verarbeitet werden. Danach sind sie eine gesichtlose, hellbraune Masse.
Marroni-Püree, Purée de marrons, oder Purea di castagne kauft der Mensch en bloc, wie ein Mödeli Anke; in gut stapelbare Form gepresst und eingepackt in ein plastifiziertes, fettabweisendes Papier. Zum Konservieren wird das Püree tiefgefroren und braucht deshalb einige Zeit, um zum Verarbeiten weich und geschmeidig zu werden. Dann lässt es sich problemlos in Würfel schneiden. Diese füllt der Mensch in das Rohr einer Presse, und stösst die Masse durch das Lochblech. So stellt er «Vermicelles» her, «Würmchen» auf Französisch.
Marronispaghetti könnte man sie auch nennen. Das ursprünglich Wilde der Marroni sieht man den Spaghetti nicht mehr an — was vom Wilden zurückbleibt, ist nur der charakteristische Geschmack: Erdig; wie Waldboden, leicht modrig; wie nasses Herbstlaub, trocken, angenehm natürlich süss, ein kostbarer Geschmack irgendwie. Vermicelles essen heisst, ein Stück Herbst auf der Zunge spüren und merken, dass der Sommer nun endgültig vorbei ist.
Und werden die Vermicelles noch mit etwas Kirsch verfeinert, so rückt das erste Fondue der Saison auch schon ganz nah, und der Mensch sieht schon vor sich, wie er die dünne Gabel mit dem Stückchen Weissbrot ins klare Kirschwasser taucht. Das Brot saugt den Kirsch auf wie ein Schwamm, bevor es ein Bad im sämigen Käse nimmt. Nicht nur Kirsch verfeinert das erdige Aroma der Vermicelles, es sind auch die treuen Begleiter Schlagrahm und Meringues. Und dabei zaubern sie aus dem wilden Haufen von Marroni-Würmern ein ansehnliches Dessert. Auch bei Schlagrahm und Meringues drückt der Mensch wieder Massen aus Spritztüten, und formt sie zu künstlichen Gebilden. Das steif geschlagene Eiweiss für die Meringue verharrt nach dem Backen in der gespritzten Wellenform. Der zu Rosetten gespritzte Rahm legt sich wie Schmuck auf die Vermicelles, macht sie lieblich und harmlos. Und wenn sie auch noch in einem Coupe-Glas serviert werden, in der obersten Rahmrosette eine kandierte Kirsche steckt, und das ganze in einem Tea Room mit Polstersesseln und Kronleuchtern gegessen wird – ja dann: Dann sind die Vermicelles vollends ihren Wurzeln entrissen.
Vielleicht erinnert sich der Mensch daran, wo die anonyme Masse herkommt, bevor sie durch die Vermicelles-Presse gestossen wurde, bevor sie zu einem Mödeli verpackt und gestapelt wurde. Da waren einmal tropfenförmige Früchte in einem stolzen, glänzenden Braun. Diese Früchte waren ummantelt von einem Panzer aus Stacheln. So waren die Marroni: widerspenstig, widerborstig, wild. Bis eines Tages der Mensch kam, und sie zähmte.
Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2010