Von Lukas Vogelsang - Das schönste Berner Quartier ist in den Schlagzeilen. Kontroversen gehören zur Lorraine. Sie bringen die Strassen zum Reden, zum Lachen und zum Weinen.
Ich bin genau zwei Strassen neben der Lorraine – dem Berner Quartier, von dem jetzt alle wegen der Sommerposse der «kulturellen Aneignung» reden – aufgewachsen. Unsere Familie lebte sozusagen auf der «guten Seite»: Wir gehörten schon zum Breitenrain-Quartier, genau neben der Kunstgewerbeschule. Beide Quartiere gehören zum Kreis V und eigentlich zusammen. Aber meine Eltern verboten mir, in die Lorraine zu gehen. Dort habe es «Gesindel», und es sei zu gefährlich. Und so fuhr ich jede Woche mit dem Sechs-Liter-Harass auf dem Fahrrad eine Viertelstunde zur Migros beim Breitenrainplatz – dabei hätte ich in zwei Mi- nuten in der Lorraine mein Familien-Ämtli er- füllen können. So was prägt ein Kind.
«Die» Lorraine gibt es nicht
Mit rund 27 Jahren wurde ich zum Betriebsleiter des alternativen Radio Rabe gewählt. Das war mehr Zufall als politische Gesinnung – diesbezüglich war ich undefiniert und wenig interessiert. Das Radiostudio lag fünf Meter entfernt auf Augenhöhe neben den Bahngleisen, inmitten der Lorraine in einem schrecklich versifften Mehrfamilienhaus. Zum ersten Mal war ich selbst Teil von diesem angeblich verruchten Quartier und stellte fest, dass man mir jahrelang Blödsinn erzählt hatte.
Meine kindliche Vorgeschichte mit der Lorraine entpuppte sich als grosse Lüge und Witz. Was habe ich alles verpasst! Durch meine Arbeit verbrachte ich jetzt viel Zeit hier. Man traf sich zu Sitzungen, ging einkaufen, ver- und pflegte sich. Das Angebot ist sensationell und viel- fältig, die Preise sind bezahlbar, von der linken Spelunke bis zu konservativ-bünzligen Restaurants gibt’s im Quartier alles. Ich kenne kein anderes Quartier, welches so durchlebt ist: viele Parks und Grünzonen, Spielplätze, verwinkelte Gassen und Wege, architektonische «Austobungen» und Schreckensbauten und natürlich die Aare mit dem eigenen öffentlichen Bad. Dieses mit Aarewasser «betriebene» Bad hat Kultstatus, eine beeindruckende Fels- wand, eine FKK-Zone (seit dem späten 18. Jahr- hundert!), und manchmal finden dort sogar Partys statt. Imposant ist gleich nebenan die alte stillgelegte Brauerei Gassner, ein Backsteingebäude unter der Lorraine-Brücke. Da werden heute von der «Füüri» unter anderem grillkulinarische Höhenflüge garantiert.
Nur wenigen Orten kann ich den Begriff «Heimat» zuordnen – die Lorraine bekommt die Ehre.
Einkaufen kann man im Quartier: in der Migros, im Denner und im seit 1997 famos funktionierenden Bio-Quartierladen «Lo-La» (Lorraine-Laden), der Menschen mit eigen- willigen Lebensläufen einen neuen Einstieg in die Berufswelt ermöglicht. Eine lokale Bäckerei beendete leider vor einigen Jahren den Betrieb, aber es gibt jetzt eine Filiale der Breitenrain-Bäckerei Bohnenblust. Weiter finden sich verschiedene Coiffeur-Läden, Pensionen, Schulen, Kindertageseinrichtungen, Start-ups, Konzertlokale, Kleiderläden, Nähateliers, Lederateliers, Veloläden, der Berner Velokurier, Buchläden, Bodybuilder-Fitnesscenter, die Kantonspolizei Bern, Garagen, Thai-Boxing-Studios, Notariate, diverse Handwerkerwerkstätten, Industriewerkzonen, Bordelle verschiedenster Art, Galerien, Trödler, die Heilsarmee, Apotheken, zig Therapiepraxen, es gab mal einen Tauchladen und vieles mehr. Auch die Tamedia hat in der Lorraine ihren nicht unbedeutenden Berner Sitz.
Die Betriebsamkeit in diesem Quartier ist riesig, wenn man bedenkt, dass nur 2000 bis 4000 Menschen hier zu Hause sind (je nach Definition). Aber «die» Lorraine, als ein Ort eines Gesinnungsverbunds oder von Menschen mit einem politischen Verschlag, die gibt es nicht. Die Lorraine ist eine kleine Stadt – die Meinungsvielfalt ist genauso unstrukturiert.
Vergessenes Büezer-Quartier
Als «Lorraine» versteht man gewöhnlich nur das Zentrum am Brückenkopf der Lorraine-Brücke. Die Lorraine war eigentlich ein Büezer-Quartier, wie sie überall in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts aufgebaut wurden. Hier fühlte sich die Industrie wohl: Die Maschinenfabrik Wifag, welche als einzige Firma in der Schweiz Rotationsmaschinen und Druckmaschinen her- stellte und vertrieb, nutzte den Bahnanschluss ans nationale Schienennetz. Das alte Wifag- Gebäude steht noch heute, und es haben sich neue Gewerbebetriebe eingemietet.
Anfang der vierziger Jahre herrschte in Bern Wohnungsnot. Das angrenzende Wylergut wurde 1943 von der Siedlungsbaugenossenschaft Bern (SBGB) und der PTT aufgekauft, und eine grosse Wohnhaussiedlung entstand. So konnten sich viele Familien unter genossenschaftlichen Bedingungen eine Wohnung oder gar ein Einfamilienhaus leisten. Dieses Bei- spiel finden wir auch an anderen Orten und Häusern in der Lorraine. Genossenschaften haben diesen Ort seit je geprägt. Und da die Berner Politik für Quartiere wenig Sinn und noch weniger Pläne hat, wusste man sich in der Lorraine gegenseitig zu helfen. Durch die Genossenschaftsformen wurden die Mieter oder Inhaberinnen zu Genossenschaftern und beteiligten sich am gemeinsamen Besitz und an den Entscheidungen. So konnte vieles finanziert werden. Das ist gelebte Demokratie und bietet allen die grösstmögliche Freiheit. Hier ist niemand «niemand», und der Mietzins geht nicht einfach durch die Decke.
Dass die kantonale Gewerbeschule Gibb die grösste Berufsfachschule der Schweiz ist, weiss kaum jemand. In der Lorraine wird die industrielle Zukunft der Schweiz ausgebildet, von Laborantinnen, Elektroingenieure, Informatikerinnen bis zum Hotelfachpersonal. Das ist weit weg von der «linken Rumhänger-Szene», welche die Medien in ihrer Sommerposse der Öffentlichkeit präsentierten. Die Schule bringt dem Quartier die tägliche Portion Jugendlich- keit und Umsätze, welche gerade den Gastro- betrieben das Überleben sichern.
Politisch wurde die Lorraine von der Stadt Bern links liegengelassen. Ein Büezer-Quartier verdiente in einer Universitätsstadt nicht viel Aufmerksamkeit. Es gab schlicht keinen vernünftigen Plan für dieses Quartier. Und so entstand ein Ort aus gelebtem gemeinsamem Freiraum. Hier hat schon immer der Markt entschieden – nur interessierte sich niemand für den Ort, und der Markt fand unter dem Radar der Haie statt. Durch die natürliche Alterung sind viele Immobilien seit den siebziger Jahren verkommen, wurden zu sozialem Wohnraum. Die Mieten blieben bezahlbar, die Mietverträge waren alt, die Hauseigentümerinnen liessen die Mieter in Frieden, investierten aber auch nichts. Das übernahmen die Mieterschaften – dankbar, dass so die Mietpreise günstig und die Freiheit gross blieben. Das Angebot wurde dem Preis gerecht, die Nachfrage füllte das Quartier. Luxus gab es wenig, weswegen einige soziale Schichten keine Lust dazu verspürten, hierher- zuziehen. Wer hier lebt, organisiert sich selbst oder gemeinsam mit anderen, egal, ob Professorin, Politiker oder Handwerkerin. Das führt zu einem lebendigen und gesunden Organismus. Handwerkerbetriebe, soziale Strukturen, alles entstand aus gemeinsamen Bedürfnissen. Und wer nicht öffentlich sein will, kann genauso gut anonym hier wohnen.
Diese Durchmischung trägt viel zur Magie bei, die hier herrscht.
Neue Besitzergenerationen und Erbgemeinschaften wollten nach dem Ableben der alten Besitzerschaften Profit sehen. Jetzt wurde der Markt sichtbar. Während es in den Städten schwierig ist, neuen Wohnraum zu generieren, ist die Lorraine ein Bau-Paradies. Und hier wird momentan viel und modern gebaut. Hier muss alles saniert werden, hier kann man Geld verdienen. Vorbei sind die Zeiten, wo man Zimmer mieten konnte mit einem Ölofen und kaltem Wasser. Die Lorraine gab vielen Menschen ohne Hoffnung eine Bleibe und damit etwas Hoffnung. Aussteigerinnen, Künstler und Studentinnen konnten sich durch die finanziell mageren Zeiten quälen – aber eben in einer sozialen Struktur, die nicht nach Ver- mögen oder Herkunft verlangt. Aber auch aus- rangierte Büezer mit niedriger Rente wohnen hier. Rund ein Viertel der Bewohner hier sind ausländischer Herkunft. Allerdings kenne ich unterdessen ebenso viele Unternehmerinnen, Lehrer, Akademikerinnen und Professoren, die hier wohnen. Und diese Durchmischung trägt viel zur Magie bei, welche hier herrscht.
Doch durch die neuen Generationen kam in den letzten Jahren auch Unruhe ins soziale Gefüge. Wer muss für den Wandel bezahlen? Wo früher ein altes Haus vielen Mittellosen eine Bleibe gab, steht heute ein architektonisch zeit- gemässer Wohnblock mit relativ teuren Wohnungen. Zwar ist man bezüglich der Wohn- formen wieder als Wohngemeinschaft oder sogar genossenschaftlich organisiert, was neuen Zuzügern bezahlbaren und familiären Wohnraum ermöglicht. Trotzdem wurden viele Menschen, die hier jahrelang eine Hei- mat gefunden hatten, verdrängt. Verständlich, dass sich einige Menschen in diesem Stadtteil darüber Gedanken machen. Wo sollen all die Menschen hin? Sie existieren. Doch die Stadt Bern hat keinen Plan.
Das Paradies ist nicht mehr weit
Nur wenigen Orten kann ich den Begriff «Heimat» zuordnen – die Lorraine bekommt die Ehre, auch wenn ich da nie selbst gewohnt habe. Ich kenne nur wenige Orte, die so lebendig Menschen, egal, welcher Gesinnung, welcher Herkunft, welchen sozialen Umfelds, welcher Geschichte oder sexueller Zugehörigkeit, verbinden. In diesem Quartier gehören alle dazu. Hier habe ich die Ausstellung von Luigi Colani gesehen, den alle als Spinner betitelten – ich war fasziniert! Hier lernte ich den begnadeten Musiker Teddy Bärlocher kennen, der eine Woche später bei einem tragischen Unfall verstarb. Und das alles mag sich in Anbetracht der jüngsten Geschichte verwirrlich anhören. Doch Kontroversen gehören zur Lorraine. Sie machen das Leben lebenswert, bringen die Strassen zum Reden und zum Lachen oder Weinen. Die Lorraine setzt sich mit Themen auseinander, bevor ihr etwas diktiert wird. Freiheit eben. Ohne das alles wären hier nur ein paar Häuser, ein paar Immobilienmakler und ein paar weitere tragisch-egomane Gestalten.
Wenn ich schon am Vergleichen bin, so würde ich die Lorraine wohl mit Berlin vergleichen. Das ist zwar nicht meine Lieblingsstadt, und grössenmässig ist es vermessen, es fehlt auch die Weltgeschichte – das ist mir alles bewusst. Trotzdem findet man hier eine umtriebige Friedlichkeit, die ich auch in Berlin vorgefunden habe. Und wenn es Sie, liebe Leser, irgendeinmal statt nach Berlin in die Lorraine verschlägt, dann suchen Sie die Klangbrücke. Es ist das wohl schönste Kunst-am-Bau-Werk von Bern – nur wenige kennen es. Eine Brücke, die verbindet – einen alten Teil mit einem neuen – und dabei klingt. Sie werden dieses Erlebnis nie mehr vergessen, und dieses Stück Kunst beschreibt das alles besser, als ich es in diesem Text vermag.
Wie gesagt: Es ist die Liebe, Lorraine, die Liebe.
Foto: Die hintere Lorraine — © Lukas Vogelsang, 2022
Dieser Artikel wurde in der Weltwoche Nr. 35 im Jahr 2022 abgedruckt und war eine Auftragsarbeit. Unter dem Motto: Man soll den “Rechten” nicht die “linken Themen” überlassen, kann man einen solchen Artikel durchaus in diesem Magazin veröffentlichen.