(Constantin Seibt) —
Fällt das wichtigste Produkt weg, hat jede Branche ein Problem. Etwa der Journalismus, seit sein Hauptprodukt, die Nachrichten, inflationär, also wertlos geworden ist.
Kein Wunder, wird nach Ersatz gesucht. Ziemlich oft hört man, dass der Journalismus Einordnung und Orientierung bieten müsste. Und denkt sich dann zwei Dinge:
- Klingt plausibel. Es gibt einen Markt dafür.
- Fuck.
Sicher, Orientierung ist in einer komplexen Welt ein chancenreiches Produkt. Nur muss man sie erst einmal haben. Journalisten sind zwar nicht auf den Kopf gefallen. Aber ihr Geschäft ist weniger die Produktion von Ideen als ihre Popularisierung.
In der gesamten Pressegeschichte war das kein ernsthaftes Problem. Es gab stabile Lager mit stabilen Ideen: links, rechts, liberal, gegen den Staat oder in seinen Diensten, gegen die Wirtschaftsbonzen oder in ihren Diensten. Auf verlässlichen Herdplatten konnte man täglich Orientierungssuppe kochen.
Doch das waren die fetten Zeiten. Heute ist Klarheit die Ausnahme, Unklarheit die Regel. Fast egal, in welchem politischen Lager man steht: Komplexe Monstren wie Finanzkrise, Eurokrise, Klimawandel, Überwachung, Digitalisierung sind alles andere als einfach zu fassen. Nicht in der Analyse. Und schon gar nicht als Lösung, selbst auf dem Reissbrett.
Die Krise ist eine intellektuelle Krise
Als Reporter stösst man bei jeder zweiten Recherche auf dasselbe Problem: die dramatische Konzeptlosigkeit der führenden Akteure. Ob in der Finanzwelt, der Politik, in Kultur oder Medien – es gibt erstaunlich wenig Leute, die eine Strategie haben. Und noch seltener: eine Alternative. So mächtig der Bankensektor ist, so bewusstlos hangelt er sich von Euphorie zu Skandal. Im entscheidenden Land Europas, Deutschland, drehte sich der Wahlkampf um alles Mögliche: Autobahngebühren, Vegetariertag oder Pädophile. Aber nicht um die neue Rolle als entscheidendes Land des Kontinents. Und in Branchen wie Theater, Werbung oder Kunst dominiert Dr. Frankenstein: eine Collage von Zitaten. Statt einer neuen Ästhetik liefern sie Ironie.
Ein grosses Wursteln hat sich über die Welt gelegt – man macht mangels Alternative weiter, selbst wenn die Zeichen an der Wand stehen. Der Journalismus ist hier eine führende Branche. Nach 13 Jahren Krise haben die Chefetagen der grossen Verlage nicht nur keinen Plan, sondern nicht einmal die Melancholie, keinen zu haben.
Das Köpfe-Paradox
Dabei wäre Orientierung beweisbar gefragte Ware. Liefert man sie, kann man sogar ohne organisatorische Ressourcen erstaunlich Erfolg haben. Der meistzitierte Journalist der Welt etwa betreibt diesen Beruf nur im Nebenjob. Paul Krugman, hauptberuflich Ökonomieprofessor, schaffte es – halb durch Wissen, halb durch einen unverstellten Blick – ein Jahrzehnt lang aktueller, präziser, relevanter als die Profis zu sein. (Hier eine kleine Skizze zu seinen Methoden.) Und in der Schweiz gelang es einem mittelgrossen NGO, der Erklärung von Bern, die Debatte über den gigantischen Rohstoffsektor an sich zu reissen: Sie veröffentlichte als Erste ein Buch darüber. Und hat seither das intellektuelle Monopol.
Die Nachfrage ist da, doch erstaunlicherweise fehlt das Angebot. Fragt man sich nach den aufregenden Intellektuellen des Landes, fällt einem kaum jemand ein. Das heisst nicht, dass die Leute dümmer geworden sind. Aber es gibt ein Paradox: Man kennt privat viele kluge Köpfe, aber nicht in der Öffentlichkeit.
Kurz: Hier gibt es eine Marktlücke. Die mit einem uralten journalistischen Mittel angegangen werden kann: mit Recherche.
Der Salon im 21. Jahrhundert
Es wird Zeit, dass die Zeitung etwas wieder eröffnet, was an ihrer Wiege stand: den Salon des 18. Jahrhunderts. Damals, zu Beginn der Aufklärung, zeichnete sich ein Salon dadurch aus, dass er die interessanten Köpfe sammelte, unabhängig von Titel und Stand.
Die Gastgeber der bedeutendsten Salons waren nie die Mächtigen; es waren die Aussenseiter: meist Frauen oder Juden. Gerade ihr Aussenseitertum gestattete ihnen, das zu bieten, was ein Salon bieten muss: neutralen Boden für die verschiedensten Hierarchiestufen, Professionen, Temperamente.
Zum Eröffnen eines erfolgreichen Salons muss man ein guter Gastgeber sein, nicht der beste Kopf. Jemand von Neugier und Geschmack, aber nicht von erdrückender Brillanz; von Ehrgeiz, aber nicht mit dominierender Stellung.
Zu dieser Rolle passt die Zeitung besser denn je. Denn sie gleicht einem verarmten Adligen: Mit den Verlusten an Auflage hat sie auch viel an Respekt, an Droh- und Definitionsmacht verloren. Und ihre Angestellten hatten schon immer einen zweifelhaften Status. So schrieb etwa der Philosophieprofessor und Zeitungsherausgeber Andrew Potter:
Das Wichtigste, was man über Journalisten wissen muss, ist, dass sie Intellektuelle der untersten Rangstufe sind. Also: Mitglieder der intellektuellen Klasse, aber mit dem kleinsten Ansehen. Deshalb haben sie auch traditionell die Manieren des Proletariats angenommen: das Trinken und Fluchen, die Anti-Establishment-Reflexe und den Stolz, dass Journalismus kein durch Diplome erlernbarer Beruf ist.
Kurz: Die Zeitung hätte sowohl genug wie auch genug wenig Prestige, die wirklich cleveren Köpfe der eigenen Stadt zu recherchieren, aus ihren Nischen zu ziehen, sie zusammen zu setzen und zu befragen: aus den Universitäten, den Hightech-Start-Ups, den Theatern, den Konzernen, dem Beamtenapparat, den Blogs, woher auch immer. Nach dem einfachen Selektionsprinzip, dass Titel und Position im Salon nichts zählen, nur die Lebendigkeit der Köpfe selbst.
Einsamkeit als Angelhaken
Zwar betreiben Zeitungen schon seit langem Schrumpfformen des Salons, nur unsystematisch und viel zu individualisiert. Bereits vorhanden sind:
- Das Künstlerporträt (seltener: Wissenschaftlerporträt)
- Das Wie-wurden-Sie-so-grossartig-Interview (Jemand Erfolgreiches erzählt, wie dieser Jemand zu seinem Erfolg kam)
- Das Experteninterview (Wissen – oder im schlechten Fall: Meinung – wird abgemolken)
- Das Duell (Klimaforscher vs. Klimaskeptiker; Austeritätsanhänger vs. Keynesianer, Linker vs. Rechter, etc.)
So legitim diese Gefässe sind, so ungenügend lösen sie das Hauptproblem der meisten klugen Leute – ihre Einsamkeit. Denn die meisten intelligenten Leute sind einsam: die glücklosen in ihrer Unbekanntheit, die erfolgreichen im Erfolg. Denn eine angesehene Marke zu sein, ist zwar ein Luxusgefängnis, aber dafür garantiert ausbruchssicher.
Interessante Leute zusammenzubringen, mit anderen interessanten Leuten, mit interessanten Fragen – das ist der Job, den eine Zeitung fast exklusiv leisten kann. Denn die digitale Konkurrenz kann den Job nur halb machen. Die Link-Kuratoren oder die Organisatoren von Ted-Talks feiern stets den einzelnen Wurf oder das einzelne Individuum: Deren Einsamkeit aber bleibt.
Doch Vereinzelung ist gerade das Problem. Wenn es einen Vorteil von Unklarheit und Krise gibt, dann ist es der: Es steigert das Bedürfnis der guten Köpfe mit wem auch immer zu reden, da sie die Lösung auch nicht haben.
Welche Formen?
Um einen Salon im Blatt zum Laufen zu bringen, braucht es neue Gefässe. Solche, die die traditionellen Leitplanken verlassen und das Ergebnis offen lassen. Also etwa:
- Das Duett (Erstaunlicherweise sind die Debatten zwischen zwei Leuten fast immer spannender, wenn sich die Diskutanten im Grundsatz einig sind. Bei einem Duell werden schon aus Vorsicht meist nur die Standardkeulen ausgepackt. Sind die Leute einig, reden sie freier: über die wahren Motive, Probleme, Hoffnungen und Ängste. Ausserdem lernt man nicht zwei konträre Positionen, sondern etwas viel Interessanteres kennen: zwei konträre Denkstile.)
- Das Triple-Interview zu umstrittenen Themen, mit drei Leuten aus völlig unterschiedlichen Berufsfeldern. (Hier als kleines Experiment ein episches Kaminfeuergespräch zum Rauchen, geführt mit einem Tabakfabrikanten (an der Zigarre), einem Soziologen (an der Zigarette) und einem Psychoanalytiker (mit Pfeife).)
- Das verrückte Interview. Kennzeichen des verrückten Interviews ist, mit einer ganz konkreten Frage zu beginnen und dann weiss Gott wo in der Weltgeschichte zu enden. Also ein Interview zu führen, wo keiner der Beteiligten am Anfang weiss, wo es am Ende landet – weshalb es vorzugsweise spät nachts und mit Alkohol geführt wird. (Hier als Beispiel ein Interview mit Professor Imhof über Botellones, mit dem pädagogischen Titel «Jugendliche, macht Massenbesäufnisse! Ihr könntet viel Dümmeres tun.»)
Das als erste rohe, noch unsystematische Skizze.
150000 Franken Kopfgeld
Jedenfalls wäre nach dem Wegfall der Nachrichten der Betrieb eines Salons ein neues Geschäftsfeld für eine Zeitung. Und eine echte, zeitgemässe Aufgabe. Nur muss man sie nicht punktuell, sondern professionell betreiben: also mit Investition von Geld.
Denn das systematische Entdecken, Testen, Angeln, Mischen, Bemuttern, Befragen von cleveren Köpfen braucht Personal. Zwar nicht viel, nur ein, zwei Stellen. Aber diese notwendigerweise. Schon allein, weil die Aufgabe etwas schwieriger ist als im 18. Jahrhundert. Damals wimmelte es von brillanten Köpfen. Heute wimmelt es von brillanten Problemen.
Kurz: Die Eröffnung eines Salons ist ein unternehmerischer Entscheid.
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