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Die Post bringt keinen Brief

Von Per­er J. Betts - «Die Post bringt keinen Brief für dich. Was drängst du denn so wun­der­lich, mein Herz?» Ein spätro­man­tis­ch­er Lyrik­er hat diese Zeilen geschrieben: Wil­helm Müller (lange vor den Zeit­en des Bauhaus­es in Dessau geboren – 1794 – und auch dort gestor­ben: 1827) wurde auch «der Griechen-Müller» genan­nt, war er doch der Hauptvertreter des deutschen lit­er­arischen Hel­lenis­mus. Sich­er ist er heute bess­er bekan­nt als der Tex­ter der «Win­ter­reise» (aus der die bei­den Verse stam­men) und der «Schö­nen Mül­lerin» – bei­de von Franz Schu­bert… Seit fast fünf Jahrzehn­ten hat mir die «Win­ter­reise» in den ver­schieden­sten Lebensla­gen viel bedeutet. Nach­dem ich in meinem zweitlet­zten Gym­nasial­jahr Wolf­gang Borcherts «Draussen vor der Tür» insze­niert (der — in meinen Augen — berühmte Büh­nen­bilder Ary Oech­slin am Stadtthe­ater Bern hat­te mir gratis das Büh­nen­bild gemacht — wäre so etwas heute denkbar?) hat­te, erhielt ich als Pre­mierengeschenk die «Win­ter­reise» von Franz Schu­bert mit Diet­rich Fis­ch­er Dieskau (Gesang) und Ger­ald Moore (Klavie). Die Lied­texte waren abge­druckt. Ich fand die Texte alle banal. «Warum hat­te ein so beg­nade­ter Kom­pon­ist keinen hochkaräti­gen Tex­ter gefun­den?», fragte ich mich — und: «Es muss doch in der Zeit der Roman­tik viele, viele Schreiber gegeben haben, die mehr zu sagen hat­ten und auf bessere Weise, denke man nur schon an Heine oder so.», und: «Vielle­icht ver­ste­hen Kom­pon­is­ten eh nichts von Sprache, und es gelingt ihnen – wohl eher instink­tiv –, aus den vertrot­telt­sten sprach­lichen Vor­gaben ein überzeu­gen­des Ganzes zu machen, denke man nur an die vie­len absur­den Opern­li­bret­ti. Und irgend­wie ist es Schu­bert ganz offen­sichtlich gelun­gen, aus dieser Banal­ität her­aus eine grossar­tige Botschaft zu entwick­eln.» Und das Team Fis­ch­er-Dieskau/­Moore verdichtete diese Botschaft zu ein­er unen­trinnbar erschüt­tern­den Real­ität. Für mich. Damals wie heute. Noch heute haben für mich sämtliche Fis­ch­er-Dieskau/­Moore-Inter­pre­ta­tio­nen der «Win­ter­reise» (inzwis­chen gibt es aus ver­schiede­nen Leben­sphasen bei­der ver­schiedene Auf­nah­men auf dem Markt) Offen­barungscharak­ter. Aber in mir hat sich etwas gewan­delt: Ich habe erkan­nt, dass der Griechen-Müller in seinen Aus­sagen alles andere als banal war, son­dern – auch for­mal – genial, weil es ihm gelun­gen war, in sehr unspek­takulären Tex­ten mit­ten in Emo­tion­alidyllen hinein eine Unmenge schar­fer Kri­tik an Sys­te­men und Indi­viduen und all­ge­mein akzep­tierten Ver­hal­tens­for­men und Werthier­ar­chien, an gut­bürg­er­lich­er Norm-Ver­logen­heit, heuch­lerischem Sno­bis­mus, an Oppor­tunis­mus und Aus­beu­tung als Grund­hal­tung sehr nach­haltig (wie Figu­ra zeigt) unterzubrin­gen: Wil­helm Müller ein Sub­ver­siv­er? Lesen Sie die Sub­texte! Gut, hat er die Achtund­vierziger­be­we­gung nicht mehr erlebt. Er wäre wohl schön drangekom­men… Und heute? Trau­riger­weise sind diese Texte heute hoch aktuell – nicht nur, wenn man sich Fotos aus Robert Mugabes Palast in Harare (wie sie im Inter­net ange­boten wer­den) anschaut. Es gab eine Zeit, noch vor ein paar weni­gen Jahrzehn­ten, als die Post weniger daran inter­essiert war, als Prof­it-Cen­ter dem unbe­grenzbaren Wach­s­tum­swahn zu huldigen und dafür nach ihrer Iden­tität in der Qual­ität ihrer Dien­stleis­tun­gen suchte, dass die Adresse (Namen: frei erfun­den, die Episode aber keineswegs!) «Gio­van­ni Mor­dasi­ni, Isper­ra in Svizzera» völ­lig genügte, damit besagter Gio­van­ni Mor­dasi­ni, im Gefäng­nis in der Schweiz als Einges­per­rter, den Brief seines Fre­un­des aus Südi­tal­ien erhielt. Müllers bei­de ersten Zeilen laut­en: «Von der Strasse her ein Posthorn klingt. Was hat es, dass es hoch auf­springt, mein Herz?» Man wusste bei der Post offen­bar, und kün­dete dieses Wis­sen auch akustisch stolz an, dass das Über­brin­gen eines Briefes, auch wenn er nur ein paar schein­bar unbe­deu­tende Worte enthielt, in jed­er Lebenslage ein­er Empfän­gerin oder eines Empfängers von gross­er Wichtigkeit sein kann. Ger­ade ein Delin­quent im Strafvol­lzug, «Isper­ra in Svizzera», würde durch einen Brief Leben­skraft erfahren, wie ein ver­lassen­er Lieb­haber aus dem Brief der Geliebten in der Stadt – das Bild, das wohl Griechen-Müllers Text zugrunde gele­gen haben mag. Die Post hat­te damals ein spezielles Team (vielle­icht mehrere) mit der Auf­gabe betraut, schein­bar unzustell­bare Briefe der oder dem Angeschriebe­nen zuzuführen. Vielle­icht weil die Post ihre Auf­gabe als Botin, die Men­schlichkeit ver­mit­telt, ernst nahm und ihre Hauptbes­tim­mung nicht in der per­ma­nen­ten Gewinnop­ti­mierung sah? Inzwis­chen hat – glob­al­isiert – ein Kul­tur­wech­sel stattge­fun­den. Kein Posthorn. Ein gelbes, ras­sig gefahrenes Auto nähert sich mor­gens sehr früh der Ansamm­lung von Briefkästen an geeigneter Stelle der Ansamm­lung von Wohnein­heit­en (gle­ich Sied­lung…), möglichst ohne noch Schlafende zu stören; der Fahrer oder die Fahrerin bremst forsch, wirft ein paar Post­säcke unter den Briefkästen ab, ver­duftet so laut­los wie möglich, schliesslich ist es etwa sechs Uhr in der Früh. Viel, viel, viel später tuck­ert der Post­bote oder die Post­botin hör­bar mit Moped und Anhänger daher, oft eine richtige Win­ter­reise (bei Müller würde das so heis­sen: «Fliegt der Schnee mir ins Gesicht, schüt­tl’ ich ihn herunter. Wenn mein Herz im Busen bricht, sing ich hell und munter.»). Er oder sie öffnet die Säcke, verteilt die Post in die Briefkästen der ganzen Sied­lung, meist längst nach der erwarteten Zeit, oft gestresst und müde: effizient, rationell, unper­sön­lich, mit mess- und daher opti­mier­baren Arbeit­sleis­tun­gen als einzigem Ziel. Und wenn die Adresse nicht ganz stimmt: dann, Real­ität hin oder her: «Die Post bringt keinen Brief für dich.» Fini­to. Natür­lich, falls der/die Absender/in seine/ihre Adresse auf den Briefum­schlag geschrieben hat, find­et sich die unzustell­bare Post in seinem oder ihrem Briefkas­ten wieder, vielle­icht nach ein­er Woche oder so, aber mit dem kleinen Kle­ber, worauf ste­ht: «Adres­sat unter der angegebe­nen Adresse nicht iden­ti­fizier­bar.» Gio­van­ni Mor­dasi­ni würde keinen Brief erhal­ten. Vielle­icht dächte er, er sei für seinen Fre­und gestor­ben. Geschieht ihm recht, dem Gio­van­ni, hat er sich doch erwis­chen lassen. Der Fre­und, der natür­lich keinen Gegen­brief erhielt, würde vielle­icht denken: Gio­van­ni lebt – wenn auch im Kittchen — in Svizzera, wer in Svizzera lebt, braucht sich nicht an seine armen Fre­unde in Italia zu erin­nern. Die Post als kom­mu­nika­tions­fördernde Insti­tu­tion. Nun, kür­zlich habe ich meinem Bekan­nten einen Brief mit fol­gen­der Adresse geschickt (wed­er Name noch Adresse erfun­den): Peter Javor, Ensinger­strasse 16, 3006 Bern. Gut eine Woche später lag der Umschlag in meinem Briefkas­ten. Auf dem Kle­ber stand: «Adres­sat unter der angegebe­nen Adresse nicht iden­ti­fizier­bar.» Ich kor­rigierte die Adresse wie fol­gt: Peter Javor, Ensinger­strasse 18. Der Brief ist (noch) nicht zurück­gekom­men. Ken­nen Sie die trau­rige Geschichte vom Aus­tralier, der ver­suchte, seinen alten Bumerang wegzuw­er­fen? «Die Post bringt keinen Brief für dich. Was drängst du denn so wun­der­lich, mein Herz?» Auch eine trau­rige Geschichte. Und eine noch trau­rigere Geschichte vom gel­ben Prof­it-Cen­ter: Die Post­botin oder der Post­bote hat keine Ahnung, wer in den Häusern wohnt, bei denen sie oder er Tag für Tag die Post ein­wirft. Wer in Num­mer 16 wohnt: Ste­ht auf den Briefkästen. Wer im Nach­barhaus wohnt: «Keine Ahnung, obwohl ich natür­lich gestern alle die Adressen an den Kästen gele­sen habe, und vorgestern und vor-vorgestern und… bin gestresst, was soll’s? Soll der Idiot den Brief zweimal schick­en, wirft etwas ab für das Prof­it-Cen­ter. Wen wun­dert es, dass Müllers Bild heute schief ist: «Von der Strasse her ein Posthorn klingt.»