Von Johana Bory — Angefangen hat alles am Kindergeburtstag meiner Schwester. Ich war damals sieben, sie wurde vier – und ich spielte ihr mit meinen Puppen eine selber inszenierte Geschichte vor. Von da an bekam meine kleine Schwester wöchentlich ein Kasperlispiel zu sehen.
Das erste Mal vor Publikum spielte ich ein Jahr später, am fünften Geburtstag meiner Schwester; sie hatte alle ihre Freunde eingeladen. Zuvor hatte ich tausend Mal geübt und meiner Schwester vorgespielt, doch nun, im Rausch des Spielens, fing ich plötzlich an zu improvisieren. Sehr zur Enttäuschung meiner Schwester. Entsetzt kam sie zu mir hinter das Theater und begann, mich zu korrigieren. Doch ich fand Gefallen an dieser Art des Marionettenspiels und auf diese erste Puppen-Improvisation folgten weitere: Bald spielte ich an Geburtstagen anderer Kinder, hatte Auftritte in Kindergärten und Schulen.
In dieser Zeit zog unsere Familie mehrmals um. Meine Freunde musste ich jeweils zurücklassen – meine selbst gemachten Marionetten blieben bei mir. Jede hatte ihren eigenen Charakter, zu jeder hatte ich eine Beziehung: Beschützer, Hexe, Freund zum Lachen, Figuren, denen ich meine Geheimnisse erzählen konnte – mein Kinderzimmer war voll von Marionetten und Kasperlifiguren. In der Welt der Marionetten fand ich Leidenschaften meiner Eltern wieder: Meine Mutter war begeisterte Malerin, mein Vater ein Bastler. Es machte mich glücklich, vor den beiden zu spielen. Vor allem, da sie in jener Zeit begannen, sich gegenseitig zu kritisieren und zu streiten. Während meinen Spektakeln aber sah ich sie beide vor mir, stolz auf ihre Tochter, auf mich, auf meine Marionetten, hingerissen von meiner Fantasie, aber vor allem: Zusammen!
Meine Marionetten waren immer für mich da. Das änderte sich auch in der Pubertät nicht. Im Gegenteil; eine Leidenschaft wurde stärker! Nach der Schule freute ich mich jeweils darauf, alle meine Figuren wiederzusehen. Ich fabrizierte eine Marionette nach der anderen. Jeder noch so kleine Gegenstand, der mir ins Auge fiel, bekam einen Sinn, eine Geschichte oder sonst eine Funktion innerhalb des Marionetten-spiels. Ich konnte jedem Fetzchen Stoff und jedem Stücklein Holz Leben geben und bemerkte bald, dass jede Figur in irgendeiner Weise ein Teil von mir war. Sie entsprachen meinem Charakter, verkörperten meine Träume. In dieser Zeit des Heranwachsens, in der man sich selbst sucht, konnte ich mich hundertfach wiederfinden, denn ich hatte Hunderte von Spiegeln. Mein Zimmer war voll davon: Überall hingen Puppen. Ich war naiv wie der Clown auf dem Fenstersims, egoistisch wie die Prinzessin auf dem Schrank, böse wie die Hexe auf der Vorhangstange.
In meinem Zimmer wurde es enger und enger und plötzlich war mir klar: ich muss raus, will meine Leidenschaft anderen Menschen zeigen und weitergeben. Deshalb richtete ich mir ein Atelier ein und begann noch vor meinem 18. Geburtstag, Kurse zu geben. Das war meine Möglichkeit, die Kunst zu teilen. Gleichzeitig erlebte ich durch die Arbeit mit anderen Menschen eine Offenbarung: Ich bemerkte, dass jeder Schöpfer sich in seiner Puppe selber darstellt. Dabei kam es auch zu magischen Erlebnissen: Ich bemerkte, dass sich körperliche Gebrechen in den Marionetten widerspiegeln. Puppen-Körperteile wie Hälse oder Hände brachen häufig genau an jener Stelle, an der ihre Schöpfer selbst Probleme hatten. Brüche, Operationen, Verletzungen, Schwachstellen fanden also Ausdruck in den Marionetten.
Marionetten dienen auch als Sprachrohr: Oft brachten Kinder und Erwachsene ihre Probleme, Leiden und Geheimnisse zum Ausdruck, wenn sie ihre Puppen sprechen liessen. In all diesen Situationen habe ich nur still zugeschaut, habe diese Beobachtungen für mich behalten, aber oft hat es mich geschüttelt. Durch die Puppen konnte ich viel von anderen Menschen erfahren, genauso wie ich viel von mir zeigen konnte. Meine Leidenschaft wurde dadurch noch grösser. Zur Vertiefung habe ich angefangen, Bücher über Marionetten und Therapien zu lesen. Verstanden habe ich nicht viel, ich war zu jung, aber ich fühlte mich bestätigt in meiner Erfahrung, dass es in Puppen etwas sehr Wertvolles gibt, etwas Geheimnisvolles. Und ich wollte spielen! In dieser Zeit war ich weniger am Basteln, dafür umso mehr am Spielen. Ich konnte dadurch ohne Tabu von meinen Ängsten erzählen, von meiner Liebe, von meiner Lust, von meiner kleinen inneren Revolution. Ich habe Geschichten geschrieben, Bühnenbilder gemalt und immer öfter andere Künstler getroffen: Musiker und Schauspieler, mit denen ich zusammenarbeitete.
18 Jahre alt war ich damals – und zog mit meinen Puppen los durch Frankreich. Während sechs Jahren spielte ich an verschiedenen Festivals, in Theatern, Schulen, bis im September 2000, als ich drei Mal beim grossen Mondial-Theater-Marionetten-Festival engagiert wurde. Die Menschen haben mich dort herzlich aufgenommen und aus den drei geplanten Auftritten wurden 27. Überall im kleinen Dorf habe ich gespielt.
Ich hatte mein Ziel erreicht. Ich war stolz. Und dennoch unzufrieden, denn nach diesem Festival wollte ich etwas Grundlegendes ändern: Ich wollte nicht mehr Verstecken spielen. Ich wollte auf der Bühne spielen, so dass das Publikum mich sehen kann. Und so, dass ich das Publikum sehen kann. Schluss mit den schrecklichen Rückenschmerzen vom verkrümmten Spielen unter der Bühne. Meine Puppen konnten gut singen – ich nicht. Sie konnten gut tanzen – ich nicht. Sie waren frech – ich scheu.
Um vorwärts zu kommen, brauchte ich zum ersten Mal in meiner Marionetten-Laufbahn einen Lehrer. Ich besuchte «l‘ecole lassaad» in Brüssel und liess die Puppen solange unberührt. In diesen zwei Jahren konnte ich mich neu entdecken, meine Körpersprache, meine Mimik. Das Wiedersehen mit meinen Puppen war wunderbar: Ich konnte mich und die Puppen besser bewegen.
Der Film «Bouton», 78 Minuten, läuft zur Zeit in den Schweizer Kinos.
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2011V