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Die Schweiz als Weltmacht inkognito

Von Dr. Reg­u­la Stämpfli - Ein Berg­land voller eigensin­niger Täler, ohne Sicht aufs Mit­telmeer und trotz­dem unter den wichti­gen glob­alen Play­ern – das ist die Schweiz, und zwar schon seit Jahrhun­derten. Die inter­na­tionale Han­del­spoli­tik der Eidgenossen­schaft begann mit dem Verkauf ihres Nach­wuch­ses. Kon­nte der erste Sohn noch den Hof übernehmen, der zweite vielle­icht bei der Kirche Unter­schlupf find­en, mussten sich der dritte, vierte, fün­fte und sech­ste als Söld­ner bei den europäis­chen Köni­gen verdin­gen. Die Eidgenossen waren bru­tal, gnaden­los und von allen gefürchtet. Der Han­del mit eid­genös­sis­chen Armenkör­pern und deren Renten war dafür ein lukra­tives Kap­i­talgeschäft für die Reichen und lieferte die Grund­la­gen für das schweiz­erische Banken- und Ver­sicherungswe­sen. Der Krieg macht seit damals Einzelne stinkre­ich und andere mause­tot. Ab 1515 gab es dann Frieden zu Hause, und im Aus­land wurde umso übler gewütet: In Kriegen für Frankre­ich, die Nieder­lande, Spanien, Öster­re­ich, Ungarn, Savoyen ver­di­ente die Schweiz­er Obrigkeit kräftig mit – die alten und bekan­nten Geschlechter gibt es bis heute. Aus dieser Zeit stammt übri­gens die «Schweiz­erkrankheit», das Heimweh, das lit­er­arisch mit Hei­di eine Weltkar­riere machte. Der Prof­it mit dem Söld­ner­we­sen ging erst im Laufe des 18. Jahrhun­derts zurück, da die Frühin­dus­tri­al­isierung im Tex­tilsek­tor den armen, überzäh­li­gen Söh­nen und Töchtern ein neues Einkom­men ermöglichte. Erst 1859 wurde indessen der Waf­fen­di­enst für fremde Mächte ver­boten, mit ein­er Aus­nahme: der Schweiz­er­garde im Vatikan.

Diese safti­gen Geschichten(n) klin­gen im sehr lesenswerten Buch «Tran­sithandel. Geld- und Waren­ströme im glob­alen Kap­i­tal­is­mus» von Lea Haller etwas nüchtern­er, lei­der, wom­it wir beim einzi­gen Kri­tikpunkt ange­langt wären: «Der Sol­d­di­enst war eine frühe Form von Dien­stleis­tung­sex­port, und damit jen­er Form von transna­tionalem Geschäft, mit der das Land noch heute seine Zahlungs­bi­lanz aus­gle­icht. (…) Die reg­i­ments­fähi­gen Fam­i­lien (…) sicherten sich für die Ver­mit­tlung von jun­gen Män­nern in fremde Heere oft auch lukra­tive Gegengeschäfte. So han­delte der Wal­lis­er Grossun­ternehmer Kas­par Jodok Stock­alper (1609–1691) als Tauschgeschäft zu seinen Söld­nerkom­panien im Aus­land den Salzpreis herunter und kon­nte so den regionalen Salzhan­del monop­o­lisieren.» Lea Haller ist Ökonomin, His­torik­erin deutsch­er Schule durch und durch und unter­schei­det sich von den Causeurs in Frankre­ich oder den «great sto­ry­tellers» im anglo-amerikanis­chen Raum durch ihre tech­nis­che Herange­hensweise. Ihr «Tran­sithandel. Geld- und Waren­ströme im glob­alen Kap­i­tal­is­mus» machte vielle­icht deshalb vor drei Jahren wenig Schlagzeilen, obwohl in den über 500 Seit­en viel innen­poli­tis­ch­er Sprengstoff für zeit­genös­sis­che Debat­ten ste­ht. «Tran­sithandel» erk­lärt bril­lant Wer­den und Wirken der Schweiz als Kap­i­tal­ex­por­teur und als Ver­mit­t­lerin im inter­na­tionalen Kap­i­talverkehr – und zwar schon seit dem 17. Jahrhun­dert. «Wenn Sie einen Schweiz­er Banki­er aus dem Fen­ster sprin­gen sehen, sprin­gen Sie hin­ter­her. Es gibt bes­timmt etwas zu ver­di­enen», meinte schon Voltaire, dessen grassieren­der Anti­semitismus sich mit schweiz­erischen Ressen­ti­ments paarte. «Von der Bank von Eng­land bis zu indis­chen Plan­tagege­sellschaften gab es im 18. Jahrhun­dert kaum eine grössere kollek­tive Kap­i­tal­bil­dung, an der schweiz­erische Kan­ton­sregierun­gen nicht beteiligt gewe­sen wären», zitiert Lea Haller den öster­re­ichis­chen Ökonomen Julius Land­mann. Dazu gehörten auch die Investi­tio­nen im Han­del, und die Eidgenossen­schaft mis­chte kräftig mit. Sei­de, Gewürze, Tee, Tabak, Kaf­fee und Edel­steine macht­en den lukra­tiv­en Übersee­han­del aus, mit dem dank der geografis­chen Dis­tanz und den Preis­d­if­feren­zen gut Kohle zu machen war. Dies kann dur­chaus sprich­wörtlich ver­standen wer­den, denn der Tran­sithandel bestand im 20. Jahrhun­dert aus real­er und umgangssprach­lich­er Kohle. «Der Fern­han­del wirft also allein schon deshalb unfehlbar unge­heuren Prof­it ab, weil er die Preise zweier weit voneinan­der ent­fer­n­ter Märk­te manip­uliert, zwis­chen deren Ange­bot und Nach­frage nur durch seine Ver­mit­tlung eine Verbindung kommt. Dabei kom­men wiederum die Men­schen ins Spiel, denn sie wur­den, wie die Söld­ner, zu hohen Preisen gehan­delt: Unternehmen wie Finanzin­sti­tute aus ganz Europa beteiligten sich als Aktionäre an der Aus­rüs­tung von Sklaven­schif­f­en oder schick­ten als Reed­er eigene Schiffe auf den Weg.» Je mehr sich verän­dert, je mehr bleibt sich gle­ich: Auch heutzu­tage ver­schif­f­en Con­tain­er ille­gale Arbeit­skräfte, und der Schiffsverkehr ist, damals wie heute, der grösste Motor für den glob­alen Kap­i­tal­is­mus inklu­sive Mafia, Men­schen­han­del, Kor­rup­tion, Umweltver­schmutzung und mehr als undurch­sichtige Tran­sithandels­fir­men-Kon­glom­er­ate. Doch lei­der ist das für die Zeitun­gen weniger The­ma als Har­ry und Meghan, weshalb wir alle drin­gend Lea Hallers Buch lesen müssten.

Ware gegen Sklaven zu tauschen nan­nte man früher ver­harm­losend «atlantis­ch­er Dreieck­shan­del». Dies war geografisch insofern inko­r­rekt, als auch Asien voll in den Men­sch-Waren-Tausch inte­gri­ert war: Denn von dort stammten die hochw­er­ti­gen Baum­wolltüch­er und Kau­rimuscheln, die in Afri­ka als Währung einge­set­zt wur­den, und nach Asien ging auch ein gross­er Teil des Münzsil­bers aus den amerikanis­chen Kolonien.

Die Prof­ite im Sklaven­han­del als Kom­bi­na­tion von Rohstof­f­ex­porten und ‑importen klin­gen bis heute nach: Afrikanis­che Staat­en exportieren ihre Ärm­sten und bere­ich­ern sich dank autokratis­chen und dik­ta­torischen Struk­turen an aus­ländis­chen Invest­ments, die ihrer­seits zu Hause Demokratie predi­gen und dort Men­schen gegen Rohstoffe han­deln. Der glob­ale Men­schen­han­del, direkt mit Waren und Rohstof­fen verknüpft, wird meist ide­ol­o­gisch statt wirk­lich ver­standen. Da empfehle ich ein weit­eres Buch, das ich aber aus­führlich­er an ander­er Stelle besprechen werde: «The 1619 Project». Die Schweiz­er Indus­trie war direkt in den Sklaven­han­del involviert: Sie importierte im 18. Jahrhun­dert zeitweise mehr Baum­wolle aus Eng­land, u. a. aus der sog. «Neuen Welt»: Baum­wolle direkt aus Sklaven­hand. Auch der Kauf von Aktien an Sklaven­schif­f­en bot lukra­tive Gewinne: Gemäss neusten Zahlen waren Schweiz­er Unternehmen direkt oder indi­rekt an der Depor­ta­tion von über 1 Mil­lion und hun­dertzweiund­siebzig­tausend Sklaven beteiligt. Der Auf­stieg der «Indi­enne-Druck­erei und der Uhrenin­dus­trie» wurde so ermöglicht: Gewinne aus Übersee wur­den zu Hause investiert; Neuen­burg, Biel, Basel, Aar­gau, Zürich, Thur­gau und Glarus erlebten eine grosse Blütezeit mit dezen­traler Indus­tri­al­isierung in ein­er ländlichen, mobilen Bevölkerung. Han­del war keine Begleit­er­schei­n­ung, son­dern Motor der Indus­trie, denn dieser wurde oft mit Kap­i­tal, aus dem inter­na­tionalen Han­del erwirtschaftet, ges­tartet.

Wir machen einen Sprung ins 20. Jahrhun­dert und real­isieren: Schon zwis­chen 1913 und 1938 gab es kein Land der Welt mit einem höheren Kap­i­tal­ex­port pro Kopf als die Schweiz – und dabei gal­ten wir damals noch als arme Vet­tern des grossen Brud­ers Deutsch­land. Reden die Recht­spop­ulis­ten gerne von der kleinen, über­schaubaren Schweiz im Dicht­estress, zeigt die Wirk­lichkeit dahin­ter einen mas­siv­en hel­vetis­chen Drän­gel­stress im glob­alen Finanzkap­i­tal­markt.

«Tran­sithandel» zeigt: Der Schweiz­er Impe­ri­al­is­mus ist Tat­sache. Dieser kann – wie üblich in unser­er wort­verseucht­en Zeit – auch «sekundär» betitelt wer­den. Oder er wird mit «Busi­ness-Impe­ri­al­is­mus» salon­fähig gemacht. Schweiz­erisch akzept­abel nen­nt sich dieses Vorge­hen «wirtschaftlich­er Oppor­tunis­mus». Es war die Schweiz, die das alles umspan­nende Clear­ingsys­tem zur Per­fek­tion trieb. Zahlun­gen mussten nicht mehr über Devisen getätigt wer­den, son­dern liefen über eine Ver­rech­nungsstelle.

Bei Aus­bruch des Krieges ver­langten Eng­land und Frankre­ich von der Schweiz Verpflich­tungserk­lärun­gen, dass die Waren, die Tran­sit­fir­men ver­schifften, nicht an den Feind verkauft wur­den. Was auf dem Papi­er gut aus­sah, wurde durch den Blitzkrieg und den Sieg der Achse in Europa schnell Maku­latur. Die Schweiz war ohne Deutsch­lands Gnaden vom Welthandel abgeschnit­ten. Sie bot deshalb dem Drit­ten Reich ihre leis­tungs­fähige Indus­trie, den sta­bilen Finanzsek­tor und den Alpen­tran­sit. Deutsch­land zahlte alles auf Kred­it, und damit schien die Schweiz gerettet. Denn mit Fug und Recht kon­nte man davon aus­ge­hen, dass Hitlers Mor­dor­gan­i­sa­tion keineswegs ihren grössten Gläu­biger und Financier über­fall­en würde. Als sich mit dem Krieg­sein­tritt der USA das Blatt wieder wen­dete, wan­del­ten schweiz­erische Tran­sithandels­fir­men ihre Tochterge­sellschaften kurz­er­hand zu amerikanis­chen um. Durch diesen Auf­bau von Hold­ingsstruk­turen, bei denen zwar die Kap­i­talmehrheit in der Schweiz blieb, aber alle Han­del­skom­pe­ten­zen an die im Aus­land reg­istri­erten Tochter­fir­men delegiert wur­den, kon­nten die multi­na­tionalen Unternehmungen auch in die Nachkriegszeit gerettet wer­den. Die Hold­ing ist, bis heute übri­gens, an keine Rechts­form gebun­den. Die Kosten gehen für die Mut­ter­fir­ma zurück, die Gewinne kön­nen in die Tochter­fir­men über­führt wer­den. Die Zoll­freilager ermöglichen zusät­zlich die flex­i­ble Änderung von Ursprungs­dekla­ra­tio­nen. Es waren auch Tran­sithandels­fir­men, die mit Währungsspeku­la­tion und Ter­mingeschäften began­nen. Die Schweiz – ein Kle­in­staat mit glob­aler Wirkung, oder wie es ein Deutsch­er mir mal in einem Witz erk­lärte: Die Schweiz kann per­fekt rech­nen. Eins mal eins ergibt sofort fünf Franken fün­fzig – min­destens.

 

Lea Haller, edi­tion suhrkamp, Tran­sithandel. Geld- und Waren­ströme im glob­alen Kap­i­tal­is­mus. Berlin 2019. Lea Haller ist übri­gens seit April 2018 bei der «Neuen Zürcher Zeitung» tätig, seit 2019 als Redak­tion­slei­t­erin des Mag­a­zins «NZZ Geschichte».