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Die sechste Generation

Von Isabelle Lüthy - Aus Anlass der Ausstel­lung «Mahjong — Chi­ne­sis­che Gegen­wart­skun­st aus der Samm­lung Sigg», die momen­tan im Kun­st­mu­se­um zu sehen ist, zeigt das Kino im Kun­st­mu­se­um von Sep­tem­ber bis Okto­ber eine Rei­he chi­ne­sis­ch­er Filme aus den let­zten zwanzig Jahren. Unter dem Titel «Von Mao zu Tech­no» wer­den unter anderem Klas­sik­er, wie die frühen Werke von Zhang Yimou («Das rote Korn­feld») und Chen Kaige («Farewell my con­cu­bine»), die zu der ersten Gen­er­a­tion von Filmemach­ern nach dem Ende der Kul­tur­rev­o­lu­tion gehören, zu sehen sein. Schw­er­punkt des Pro­gramms bilden jedoch Filme neueren Datums. Hier darf sich das Pub­likum auf einige exk­lu­sive Schweiz­er Kino­premieren freuen. Zum Beispiel auf «South of the Clouds» von Zhu Wen, «Oxhide» von Liu Jiayin, «The World» von Jia Zhangke, oder »Two Great Sheep» von Liu Hao. Mit den chi­ne­sis­chen Kurzund Exper­i­men­tal­fil­men wer­den zudem Werke von bedeu­ten­den chi­ne­sis­chen «New Media»-Künstlern vorgestellt.

Seit Mitte der Neun­ziger­jahre ist in Chi­na eine neue, unab­hängige Szene von Filmemach­ern, die soge­nan­nte «sech­ste Gen­er­a­tion» der Pekinger Fil­makademie, ent­standen. Diese jun­gen Regis­seure gren­zen sich von ihren Vorgängern, die sich im West­en etabliert und ver­mehrt dem kom­merziellen Film zuge­wandt haben, expliz­it ab. Zu ihnen gehören Jia Zhangke und Liu Hao. Im Kon­trast zu den far­bigen Epochengemälden ihrer Vorgänger richt­en sie ihren Blick auf das alltägliche Leben und ver­suchen dieses mit­tels han­dlich­er Dig­i­talvideokam­eras möglichst real­ität­snah einz­u­fan­gen. Die Gren­zen zwis­chen Doku­men­tarund Spielfilm ver­schwim­men. Ein Artikel Jia Zhangkes, der 1998 in ein­er chi­ne­sis­chen Wochen­zeitung pub­liziert wurde, ist zu ein­er Art Man­i­fest des jun­gen chi­ne­sis­chen Films gewor­den. Darin spricht er sich für mehr «Ethik und Wahrhaftigkeit» im Film aus und betont die Bedeu­tung des Ama­teur­films. Gezeigt wer­den soll das andere, das wirk­liche Chi­na. Das Chi­na, das sich in tief­greifend­en ökonomis­chen und sozialen Umwälzun­gen befind­et. Erzählt wer­den die Geschicht­en der kleinen Leute, die sich angesichts des Umbruchs ver­loren und ori­en­tierungs­los fühlen. The­men wie Pros­ti­tu­tion, Krim­i­nal­ität, Homo­sex­u­al­ität, Armut auf dem Land, Land­flucht oder das Mas­sak­er von Tianan­men, die bis­lang tabu waren, wer­den nun filmisch zur Sprache gebracht.

Filmemach­er, die sich diesen Grund­sätzen verpflichtet fühlen, hat­ten bis vor kurzem keine Chance, ihre Pro­duk­tio­nen in Chi­na zu zeigen. Um der offiziellen Zen­surbe­hörde zu ent­ge­hen, arbeit­eten sie vor­wiegend im Unter­grund. Jia Zhangkes Filme «Plat­form», «Pick­pock­et» und «Unknown Plea­sures» oder Liu Haos «Chen Mo & Mein­ing» wur­den auss­chliesslich im Aus­land gezeigt. Auf oft aben­teuer­liche Weise wur­den die Filme ins Aus­land geschmuggelt, dort nach­bear­beit­et und an den aus­ländis­chen Film­fes­ti­vals mit grossem Erfolg vorge­führt. Dies­bezüglich scheint sich in den let­zten zwei Jahren jedoch ein langsamer Wan­del abzuze­ich­nen. Auf­grund der «Lockerung» der Zen­sur gelang es Jia Zhangke, Liu Hao und Zhu Wen die staatlichen Schranken zu passieren und ihre neusten Filme auch dem chi­ne­sis­chen Pub­likum zugänglich zu machen. Für viele junge Regis­seure bleibt der Unter­grund allerd­ings auch weit­er­hin die einzige Möglichkeit, ihre Ideen filmisch umzuset­zen.

Jia Zhangke wurde 1970 in der chi­ne­sis­chen Prov­inz Shaanxi geboren. Er studierte Malerei, schrieb mit 21 Jahren seinen ersten Roman und grün­dete 1995 die erste unab­hängige Film-Pro­duk­tions­fir­ma Chi­nas. «The World» (2004) ist sein viert­er Spielfilm. Er han­delt von Jugendlichen aus der Prov­inz, die in der Stadt ihr Glück ver­suchen. Schau­platz der Hand­lung ist der Vergnü­gungspark «The World» in einem Vorort von Peking. Vom Schiefen Turm von Pisa, dem World Trade Cen­ter, dem Taj Mahal bis zu den ägyp­tis­chen Pyra­mi­den sind hier die grössten Sehenswürdigkeit­en der Welt nachge­baut die Welt «en minia­ture». Der Park ver­spricht all jenen, die kein Geld für Reisen haben, die Ent­deck­ung der Welt in nur einem Tag. Zwei Wel­ten tun sich auf und ste­hen einan­der kon­flik­t­trächtig gegenüber: die Welt des bäuer­lichen Lebens in den Prov­inzen und die Welt des mod­er­nen Stadtlebens. Die Leute, die im Park arbeit­en, leben irgend­wo dazwis­chen, in ein­er kün­stlichen Welt aus Kitsch. «The World» ist aber auch die Geschichte ein­er tragis­chen Liebe zwis­chen der Tänz­erin Tao und dem ein­samen Park­wächter Tai­jeng. Bei­de sehnen sich nach einem Leben in der Stadt. Wie viele andere Men­schen sind Tao und Tai­jeng auf der Suche nach ihrem Platz in Chi­na, so wie Chi­na seinen Platz in der Welt sucht.

Der Artikel erschien im Orig­i­nal unter dem Titel «Chi­nas junges, unab­hängiges Film­schaf­fen»

Bild: zVg.
ensuite, Sep­tem­ber 2005

Artikel online veröffentlicht: 7. Juli 2017 – aktualisiert am 19. Juli 2017