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Die Spielregeln

Von Johannes Bösiger* — Es geschieht irgend­wo in einem Sitzungsz­im­mer in luftiger Höhe in Hong Kong. Pierre, Geschäfts­mann, ist aus Paris gekom­men, um den ret­ten­den Auf­trag für seine Fir­ma an Land zu ziehen. Er ist nervös. Land und Sit­ten sind fremd, der Kotau beim Aus­tausch der Busi­ness­cards eben­so wenig ver­traut wie der unter der Gewohn­heit eines einge­spiel­ten Ehelebens begrabene Hunger nach Liebe. Als dann Mathilde, die Dol­metscherin, aus dem Schat­ten der chi­ne­sis­chen Geschäft­sleute auf­taucht, ist es um den von Daniel Auteil gespiel­ten Fran­zosen geschehen. Ein «coup de foudre». Mathilde und er wer­den zum Paar der Lei­den­schaft, vom ersten Blick an. Das ist die Schlüs­sel­szene in Zabou Bre­it­mans Film «Je l’aimais», der dieser Tage in unseren Kinos anläuft. Eine Kern­schmelze hun­grig-heimat­los­er See­len.

Das Sitzungsz­im­mer im ersten Stock der alt-ehrwürdi­gen Kro­nen­halle in Zürich wirkt wie ein Zeuge aus ein­er anderen Zeit. Marie-Josée Croze absolviert hier ihren kleinen PR-Marathon, gibt Auskun­ft zum Film, vertei­digt ihre Arbeit, erk­lärt. Die blauen Augen sind hun­grig, die Kon­trol­liertheit der «Mathilde» weicht ein­er klaren Mis­sion. Schaus­piel­er zu sein, sagt sie, habe etwas mit der Lei­den­schaft des Kindes für das Spiel zu tun. Es sei qua­si zwangsläu­fig gewe­sen, sei sie «actrice» gewor­den. Hinzuge­hen, sich leicht­füs­sig in eine Sit­u­a­tion hineinzus­pie­len, vor der Kam­era oder auf der Bühne, das sei ein­fach so gekom­men. Des­tin. 1970 geboren und aufgewach­sen im franko­pho­nen Teil Kanadas, hat Marie-Josée Croze eine steile Kar­riere hin­ter sich. Nein, sie sei nicht eine kanadis­che oder eine franzö­sis­che Schaus­pielerin, sie ist sich selb­st, ein «citoyen du monde». Regis­seure wie Steven Spiel­berg oder Denis Arcand, Atom Egoy­an oder eben jet­zt Zabou Bre­it­man haben mit ihr gear­beit­et. In Kana­da, Deutsch­land, Frankre­ich unter anderem. Für «Les inva­sions bar­bares» von Arcand wurde sie 2003 in Cannes als Beste Darstel­lerin geehrt.

Es sei schon erstaunlich, wirft sie mit geball­ter Kraft ihrem Gegenüber ent­ge­gen, dass sie nur hier in der Schweiz diese Frage nach der Krankhaftigkeit der Zunei­gung zwis­chen Mathilde und Pierre zu hören bekommt. Das sei doch auch nur ein Spiel, diese Lei­den­schaft der bei­den. Das Sichver­lieben sei doch die natür­lich­ste Form von Abhängigkeit. Was — will sie nun von mir wis­sen — ist mit den Schweiz­ern los, dass die so auf diese Geschichte reagieren? Wichtig sei ihr von Anfang an gewe­sen, dass Mathilde eine Fig­ur ist, die schliesslich das Zepter in der Affäre übern­immt, diese nach ihren eige­nen Spiel­regeln führt und lebt. Das von der Willkür von Flug­plä­nen und Hotel­buchun­gen abhängige Dasein der Maitresse wan­delt sich in eines, in dem sie sagt, wo’s lang geht, bes­timmt, wann sie ihn wo und wie tre­f­fen will, ja, wann das Spiel ein Ende hat. Mit einem Kind im Bauch ver­ab­schiedet sich Mathilde endgültig von ihm.

Schaus­piel­er zu sein, heisst ein Stück eigenes Sein in eine schein­bar fremde Fig­ur einzubrin­gen. Auch für Marie-Josée Croze. Ist es Zufall, dass sie, die End­dreis­sigerin, an diesem Som­mertag gle­ich drei Frauen begeg­net, die im siebten Monat schwanger sind? Als ich, als drit­ter oder viert­er Jour­nal­ist an diesem Nach­mit­tag, zu ihr in das Sitzungsz­im­mer geführt werde, ver­ab­schiedet sich ger­ade die Kol­le­gin von ihr. Die Schaus­pielerin stre­icht san­ft über die Wöl­bung neuen Lebens, lacht, freut sich auf das anscheinend bere­its verabre­dete Wieder­se­hen in Paris.

Was ist Heimat? Kana­da, Paris? Sie füh­le sich wohl an der Seine, habe nach ihrem Erfolg in Cannes ganze Stapel von Drehbüch­ern zu franzö­sis­chen Film­pro­jek­ten erhal­ten. Und in Mon­tre­al habe sie mit der unter­schwelli­gen Aggres­siv­ität, die sie aus dem Aufeinan­der­prallen und dem Ver­schmelzen unter­schiedlich­er Men­tal­itäten und Kul­turen erk­lärt, ihre Mühe gehabt. Heimat also, sie beste­ht aus Kof­fern, aus dem Gefühl des Hier und Jet­zt.

Mit Zabou Bre­it­man ist die Arbeit im Kon­trast zu männlichen Regis­seuren eher eine gewe­sen, die auf die Emo­tio­nen der Fig­uren, der einzel­nen Momente fokussiert war. Einzig diese Szene der ersten Begeg­nung im Sitzungsz­im­mer in Hong Kong sei vor­weg aus­führlich geprobt wor­den. Anson­sten eine Arbeit des leisen Ein­ver­ständ­niss­es, des Anbi­etens von Vari­anten, des Ja-Sagens zur Inter­pre­ta­tion, die die Schaus­pielerin dem Objek­tiv der Kam­era anzu­bi­eten hat­te. Ein «ani­mal du ciné­ma» kön­nte man Marie-Josée Croze nen­nen. Sie lebt auf, wenn es ums Spiel geht. Nicht um das der puren Ver­stel­lung als Flucht, son­dern ums Spiel als Aus­druck ihres wahren Ichs. Durch die Fig­uren ihrer Fil­mo­grafie wird das zu ein­er Reise zu sich selb­st. Und umgekehrt. Bei Regie führen­den Män­nern, sagt sie und schliesst dabei jede weit­ere Frage, jeden Zweifel von vorne­here­in aus, ja, bei denen gehe es eher mal um die Erschei­n­ung, ums Make-up, um das richtige Sitzen des Kostüms, der Frisur. Bei Zabou Bre­it­man sind Blicke, Gesten, Umset­zun­gen von Gefühlen in Bewe­gun­gen, das Anliegen.

Sie hat das, wofür es ger­ade im Franzö­sis­chen eine so schöne Beze­ich­nung gibt: Le feu sacré. Eine unbändi­ge natür­liche Lei­den­schaft für ihr Tun.

Die zuge­s­tandene halbe Inter­view-Stunde verge­ht im Flug. Als näch­stes ist im grossen Saal der Kro­nen­halle, vor all den Var­lins, Braques und Miros, ein Foto­shoot­ing ange­sagt. Marie-Josée ist auf das nicht vor­bere­it­et, erkundigt sich bei einem flüchtig kon­trol­lieren­den Griff in ihr ungekämmtes blondes Haar kurz, ob sie sich selb­st schminken solle oder ein Masken­bild­ner dabei sei. Ich ver­suche ihr im Trep­pen­ab­gang noch zu beteuern, es sei wirk­lich eine sehr gute Fotografin. Ihre Anspan­nung bleibt leise.

Zwei Stun­den später trifft man sich nochmals. Der kleine Zürich-Marathon ist zu Ende, es bleiben noch ein paar Stun­den bis zum Rück­flug nach Paris. Aus dem Tag, der mit Regen begann, ist ein son­niger Spät­nach­mit­tag gewor­den. Fast tro­pisch. Mit dem Ver­lei­her und dem PR-Betreuer zusam­men find­et das Gespräch am Ufer des Sees eine Fort­set­zung. Die Neugierde der «actrice» ist echt, sie will wis­sen, saugt auf. Die Hände suchen in raschen kurzen Bewe­gun­gen den Kon­takt zur Aussen­welt, wie die Füh­ler eines Schmetter­lings, zuck­en zwis­chen den jew­eili­gen Gesprächspart­nern hin und her, wan­dern zurück zum «petit blanc», an dem sie zwis­chen­durch nippt. Spiel­berg, erzählt sie, sei ein unglaublich­es Kind beim Dreh. Wie ein klein­er Junge habe er sich über eine gelun­gene Szene freuen kön­nen, sei zu den Sta­tis­ten ger­an­nt, habe ihnen Kom­pli­mente gemacht, dass die Art, wie sie das Bier­glas hiel­ten, aber auch wirk­lich genau richtig sei. Wie ein Sack Flöhe sei er auf und abge­sprun­gen, gar nicht «der» Spiel­berg gewe­sen, den man sich vor Drehbe­ginn aus­ge­malt habe. Ein Men­sch voller echter Lei­den­schaft für sein Tun, für sein Spiel eben. Sich selb­st halt. Spricht es, äussert laut den Gedanken, für die näch­stens geplante Reise nach Ital­ien einen Zwis­chen­halt erneut in Hel­ve­tien ein­le­gen zu wollen, ver­schwindet mit einem wahren Lächeln im Taxi Rich­tung Flughafen. Marie-Josée Croze ist Schaus­pielerin, behauptet es nicht. Das sind die Spiel­regeln. Ah, und übri­gens hätte ich, ruft sie mir noch kurz zu, abso­lut recht gehabt: Die Fotografin sei tat­säch­lich phan­tastisch gewe­sen… A la prochaine alors!

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* ehe­mals Redak­teur der NZZ, Drehbuchau­tor und Pro­duzent (u.a. «Kinder der Land­strasse»), langjähriges Direk­tion­s­mit­glied des Film­fes­ti­vals von Locarno und heute u.a. Co-Leit­er der Sek­tion «Kuli­nar­isches Kino» der Berli­nale.

Foto: zVg.
ensuite, Sep­tem­ber 2009

Artikel online veröffentlicht: 7. September 2018