Von Andy Aguirre Eglin - Bericht von den 64. Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen - Der Künstlertitan Jörg Immendorff (1945–2007) spannte in einem seiner Frühwerke auf einer Deutschen Landkarte über Holz Schnüre zwischen einem Meer von Nägeln, welche die Wohnorte all seiner Freunde verbanden, und machte so den unsichtbaren Fluss seiner Kommunikation und deren Einfluss auf sein Werk sichtbar. Dies lange vor der undurchschaubaren Machtübernahme der Algorithmen in den Social Media. In einem solchen imaginären Fadenkreuz stehen auch zwei Ereignisse der letzten Monate zu den Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen, welche als Deutschlands ältestes Filmfestival wieder im vergangenen Mai ausgetragen wurden.
Das eine Ereignis war eben erst der Tod von Hilmar Hoffmann (1925–2018), der Mann, der in Deutschland noch unerschütterlich an den Segen der Kultur glaubte, 1954 Gründer der Kurzfilmtage und bis 1970 ihr Leiter. Seine Kunstauffassung und sein Motto waren stets: «Kultur für alle!» – Er war ein Mitstreiter der Sozialliberalen Koalition der Regierung Willy Brandts, der «mehr Demokratie wagen» wollte. In Hoffmanns Auslegung: «Kultur ist kein absoluter Wert, der an sich selbst gemessen werden kann, sondern nur an den gesellschaftlichen Entwicklungen, die sie bewirkt oder deren Bedingungen ihre Entfaltung unterworfen ist» (Hoffmann 1970). – Bevor es nun aber zu theoretisch wird, wollen wir auf das zweite Ereignis verweisen – die Schliessung gerade der letzten Fördergrube im Ruhrpott, das symbolische Ende des einstigen Bergmannstolzes einer ganzen Region, von Städten, die sich um den heroischen Steinkohleabbau scharten. Bundeskanzler Gerhart Schröder hatte ihn siechend mit Subventionen an der Herz-Lungen-Maschine noch am Leben erhalten. Nun ist er ganz tot. Entsprechend traurig mutet auch Oberhausens Innenstadt an, die einstige Flaniermeile im Zentrum, wo sich wohl manche Küsse fanden, Familien sonntags stolz ihre Kinder herzeigten, mit Eis beschenkten. Da haben schon länger Türken die verwaisten Ladengeschäfte übernommen, den deutschen Mittelstand auf der Flucht in die Fänge der AfD beerbt, da brutzelt nun gräulich Kebab am Spiess, zuckeln elektronische Spielhöllen in trister Langeweile, beleuchtet wie ein ‚Red Light District’ erotischer Illusionen. Fährt man mit dem Taxi zum einstigen Schwimmbad, wo eine launige Party gesponsert vom Europäischen Kultursender ARTE die Fest-spiele kulinarisch grosszügig eröffnet, weiss der Fahrer, wohl auch ein Wähler von Diktator Erdogan, nicht, wo sich dieses befindet. Fussball ja, aber Schwimmen?
Nur das Bert-Brecht-Haus hält noch seine Mahnwache, lädt zur Volksbildung in die lichtvolle Bibliothek mit Stapeln von Flyern, die doch noch von einem kunterbunt verstreuten Leben künden, und sauberen Klos. Auch das Parteibüro der «Linken» wurmt um die Ecke in der Gasse. Aber die Elite ebenso wie die Massen haben sich aus der City von Oberhausen verabschiedet ins Grüne. Die einen zum gepflegteren Wohnen, die anderen tagsüber zu Konsumfreiheit und Freizeit in das Grossprojekt holländischer Investoren auf der grünen Wiese – ein plätscherndes «Klein-Venedig», künstlich hochgezogen als neues Zentrum «im Exil».
Doch mittendrin in der sonst verödeten Fussgängerzone, gegenüber der letzten Galerie für tapfere Kunst und feinköstliche Pausenverpflegung, perlen nach 64 Jahren noch immer die Internationalen Kurzfilmtage, zehren von ihrer Geschichte und festigen ebenso als ‚Fähnlein der sieben Aufrechten’ (tatsächlich sind es über 70 MitarbeiterInnen) mit aktuellen Filmen ihren exzellenten Ruf als eine offene Plattform zwischen kurzen Spielfilmen, Musikvideos und Abschlussarbeiten von Film- und Kunstakademien. Hier standen illustre Regisseure am schüchternen Anfang wie Věra Chytilová, George Lucas, Miloš Forman, Werner Herzog, Joris Ivens, Chris Marker, Roman Polański, Pipilotti Rist, Martin Scorsese, Christoph Schlingensief, István Szabó und Agnès Varda – um nur einige zu nennen. «Hier habe ich meine erste Zigarette geraucht, habe ich jahrelang jeden Film gesehen, mich alljährlich gefreut auf die Tage in Oberhausen. Diese Ereignisse waren für mich, für meinen Entschluss Filme zu machen, wichtig.» erinnert sich Wim Wenders. Und Roman Polanski doppelt nach: «Der Kurzfilm ist ein großartiger erster Schritt für einen jungen Filmemacher. So habe auch ich angefangen, und Oberhausen war eine wichtige Station meiner Entwicklung zum Regisseur.»
Eine solche Startchance wollen jedes Jahr um die 7000 BewerberInnen genauso ergreifen im Rennen um eine Preissumme von über 40 000 Euro. Die Auswahljury – darunter ein sympathisch skurriler Charakterkopf mit Zottelbart – kann sich wahrlich über Arbeit beklagen. Sie lassen sich wohl vom Fleiss der Bienen inspirieren im hauseigenen Bienenstock auf dem Dach der herrschaftlichen Villa an der Grillostrasse, wo die Organisatoren der Kurzfilmtage nebenbei auch noch als Imker Honig gewinnen, den sie zusätzlich an die Preisträger in kleinen Gläsern verschenken. Bienenfleiss und Grillen im Kopf – das passt zum unzeitgemässen Glauben an Opas Kino.
Die Preise verteilen sich auf ca. 10 Kurzfilmwettbewerbe – den Internationalen, den Deutschen, von Nordrheinwestfalen (NRW), den Jugend- und Kinderfilm, die Sparte Musikvideo (mit einem ganz anderen Publikum – lärmig wie in der Südkurve), den 3sat-Förderpreis, den Preis der Internationalen Filmkritik (Fipresci), jenen der Internationalen Ökumenischen Jury, der örtlichen Handelskammer im Aufwind holländischer Investoren… 8000 Euro gingen diesmal als grösster Preis der Stadt Oberhausen an den wenig ersichtlichen Beitrag aus Litauen «Dėmės ir įbrėžimai» von Deimantas Narkevičius, er behandelt denn auch «Flecken und Kratzer». Doch bei den prämierten Filmen sind wir noch nicht, es juckt noch immer die Filmgeschichte, welche die Ruhrstadt mit 211 382 Einwohnern (2017) und dieses Jahr 18’000 Besuchern der Kurzfilmtage schon schrieb:
1962 erklärten Alexander Kluge, Peter Schamoni und Edgar Reitz «den Deutschen Film für tot!» und verkündeten gleich danach an der damals noch «Westdeutsche Kurzfilmtage» genannten Veranstaltung in ihrem ‚Oberhausener Manifest’: «Es lebe der neue Deutsche Film!» – Auch 1968 «wollten wir das Kino neu erfinden!» bezeugt der Kasseler Regisseur Adolf Winkelmann. Sinnigerweise geburtenförderlich setzte diese Absicht ein ‚sprechender Penis’ dreist in Szene im Skandalfilm «Besonders wertvoll» von Hellmuth Costard. Darin eregiert und rezitiert ein echter Penis als explizite künstlerische Kritik das frisch erlassene Filmförderungsgesetz in Opposition zu dessen moralischer Zensur, die da lautete: «Filme sind von der Förderung ausgeschlossen, die das sittliche Empfinden verletzen.» – Der «Gummi»-Paragraph (!) bot den Behörden ein Instrument zur Beschneidung der Freiheit der Kunst und Brunst. So sahen es Costard und seine Kollegen. Dagegen an masturbierte eine zarte Frauenhand das Genital bis zur Ejakulation auf die Kameralinse. Vor 50 Jahren sprengte dieser Film das Festival, das die Vorführung untersagte. Darauf zogen fast alle deutschen Regisseure ihre Beiträge zurück.
Winkelmann: «Seinerzeit ging es ums Ganze – in Politik und Kunst . Man muss sich auch die Zeit vor Augen halten. Wir waren angetreten, das Medium Film und Fernsehen völlig neu zu erfinden. Wir wollten alles anders machen – inhaltlich, politisch, ästhetisch. Der Penis, der sich gegen die Sittenklausel erregt, beschrieb genau, was wir damals dachten und fühlten.» Im selben Jahr kam es auch zum Bruch in der Redaktion der Zeitschrift «Filmkritik» – das deutsche Pendant zu den «Cahiers du Cinéma» (wo Truffaut und Godard einst von der Kritik ins Regiefach wechselten). Aufgrund der unterschiedlichen Bewertung von den in Oberhausen gezeigten Filmen und wegen dessen Akt der Zensur verliess die Hälfte der Redaktion das intellektuelle Flaggschiff der deutschen Filmliebhaber. Man stelle sich das mal vor. Heute kräht kein Hahn mehr nach der Filmkritik – ausser vielleicht noch der gallische (sic!). Sie ist längst zum blossen Marketing kommerzieller Filme entartet. Debatten sind heute keine mehr zu erwarten. FilmkritikerInnen werden kaum bezahlt und gelten in der aktuellen Medienkrise ohnehin als überflüssige Schöngeister «am Rande des Nerven-zusammenbruchs». Doch 1968 hiess es noch pathetisch: «Durch die engagierte Filmkritik verlässt der Film das Kino und wirkt in die Gesellschaft!» – Ludwig Marcuse postulierte eine «neue Sensibilität und Wahrnehmung», denn diese sei politisch. Alexander meinte kluge: «Eigentlich ist das Kino asozial, man ist für sich. Es braucht im Film eine neue politische Sinnlichkeit!» – An diesen filmischen Aufstand von 1968 erinnerten dieses Jahr in Oberhausen ausführlich Podien und Projektionen.
Was der Abgesang auf das Kino, ist der aktive Aufgesang des eigenen Endes. Für den sensiblen Kritiker an der Grenze zur Pietät fachsimpeln, bauen, zimmern drei deutsche Männer, Familienväter vor ihrer Pensionierung «Das letzte Haus» (D 2018, Regie: Anita Kindermann): Vom Hobbymarkt flott und hott in die Kiste! – Sie legen sich versuchsweise hinein. Als versierte Heimwerker nageln sie sich im voraus ihren eigenen Sarg. Sie lachen und scherzen, geben sich dabei munter den Anstrich vom ehrlichen Umgang mit dem Tod, wo dieser sonst doch so verdrängt werde, und verharmlosen dabei gerade das Ungeheuerliche. Den eigenen Abschied von der Welt, als wäre dieser nur eine Nagelprobe an eigenen Körpermassen, da doch jedes Mass aufhört. Eine masslose Skrupellosigkeit in eigener Sache und ein Akt demonstrativer männlicher Immunität schon zu Lebzeiten.
Auf einer anderen Ebene beschäftigt sich Lars Henrik Gass, seit 1997 Leiter der Kurzfilmtage von Oberhausen, ebenso mit dem Tod. Er tut mit seinem Team gleichzeitig Grandioses zur Lebenserhaltung und Förderung des Filmschaffens, und analysiert doch selbstmitleidslos und messerscharf das Sterben des Kinos und die Banalisierung des Films. In seiner Streitschrift «Film und Kunst nach dem Kino» (2017) stehen so schonungslose Sätze wie: «Der Film ist ein anderer jenseits von Leinwand und Kollektiv (das Publikum). Die Verfügbarkeit zu jeder Zeit wirkt an der Erosion des Films als Wahrnehmungsform mit… Das Fernsehen hat den Sieg über den Film davongetragen, indem es ihm alles nahm, was ihn durch das Kino als Wahrnehmungsform auf eine andere Wirklichkeit (von Raum und Zeit! – Anmerkung des Schreibenden) verweisen liess… Wer will sich schon Fernsehfilme im Kino anschauen… Doch werden Kinofilme wegen ihrer einzig noch möglichen Verwertbarkeit im Fernsehen auch nach dessen ästhetischen Vorgaben gedreht… Filme müssen für immer kleinere Endgeräte verwendbar sein (bespielen gar Uhren)… Fernsehanstalten oder Anbieter im Internet verkaufen den Film nicht als Produkt an einen Zuschauer, sondern den Zuschauer («User»), der diesen Film sieht, als Produkt über die ‚Quote’ an die Werbeindustrie.» Gass seziert anschaulich die gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen einer postkinematografischen Gesellschaft. Deren vielleicht schönstes letztes Geleit und Requiem Giuseppe Tornatore mit «Cinema Paradiso» (Italien, 1988) inszenierte. Vielleicht lässt sich das Kino erst im Moment seines Verschwindens verstehen.
Es verschwindet nicht nur das Kino. Es verschwindet nach dem letzten Bergmann im Schacht bald auch der arbeitende Mensch, so wie wir ihn bisher kennen. Eine Mehr-heit von unseren Nachkommen wird nicht mehr gebraucht werden. Nur noch als Konsumenten, nicht als Produzenten. Dafür werden Kolonnen von Robotern agieren. Auch ihr Schmieröl wird ihnen durch Roboter verabreicht werden. Es wird nur noch eine kleine strategisch-technische ‚Intelligenzia’ als finanzstarke Elite Beschäftigung finden. Philosophen und Filmkritiker werden wohl im Müll entsorgt. Für alle andern wird also genau das eintreten, wogegen einst Kanzler Helmuth Kohl seinen mahnenden Zeigefinger erhob zur Ankurbelung der deutschen Wirtschaft bis zum Exportweltmeister: Dabei wird nicht nur Deutschland zum «Freizeitpark» umfunktioniert, in dem die Mehrheit als Zwangsurlauber mit einem Freizeitlohn befriedet wird, damit nicht Bürgerkriege ausbrechen und die Massen der Arbeitslosen nicht die Schutzwälle um die Villenviertel niederreissen. Das ist schon mal passiert in den Dreissiger Jahren mit katastrophalen Folgen! Zu diesem künftigen «Freizeitpark» wird auch ein Rest von Kultur, werden hoffentlich auch noch die Kurzfilmtage in Oberhausen gehören als wenigstens knapp alimentierte Spielwiese der menschlichen Fantasie, als Ort letzter Würde des einst grossen Kinos.
Denn dessen grossen Inhalte gibt es noch, wirkliche Geschichten, sie blitzten auch dieses Jahr wieder aus dem Durchschnitt des Handwerks, das noch lange keine Kunst ist, heraus: So war der junge Regisseur Zhong Su nach dem Vorjahr schon mit einem weiteren Werk zur Stelle. «Magnificent Obsession» (China, 2018) ist wieder ein stupend animierter Bilderreigen durch Obsessionen, deren Bezüge, gar politische Anspielungen für uns westliche Zuschauer zwar kaum zu entschlüsseln sind, die aber in ihrem Rausch oder Tempo als Höllengelächter irrlichtern ob dem Zustand der Welt. Dabei sind die Tableaus bis ins kleinste Detail liebevoll ausgemalt, als wäre Schönheit eine Antwort zur Befriedung des Albtraums.
Dann stehen wir endlich auf dem Kopf und sehen die Welt mit völlig anderen Augen! Der Siegerfilm der Internationalen Kritikerjury (Fipresci) löst das Versprechen von Kino und Filmkunst ein, befreit den Blick zur kühnsten Wahrnehmung: «Gimny Moskovii» (The Hymns of Muscovy) von Dimitri Venkov (Russland, 2018) scheint zunächst eine banale Idee: Mit der Kamera fährt der Regisseur durch Moskau und dreht die Stadt auf den Kopf. Das scheint simpel und doch muss erstmal einer darauf kommen. Er ist und bleibt der Erste! – Denn in der Ausführung eröffnen sich Perspektiven von wortwörtlich überirdischer Schönheit, wir schweben durch das All! – Die kolossalen Machtbauten Stalins, die einst Herrschaft und Schrecken verbreiten sollten, stehen plötzlich auf grazilen Türmchen, streifen auf filigranen Spitzen wie Primaballerinen durch den Äther. Dieser Film ist nicht nur eine Augenweide, sondern erzeugt zusammen mit der sakralen Tonspur eine Liturgie der Freiheit: Auf dem Kopf stehen und Neues sehen! Die Architektur transzendiert in die Galaxie. Ein Manifest der reinen Poesie. Und wie «Peterchen’s Mondfahrt» heben wir ab verzückt ins Blaue!
Maggia, 20. Juli 2018
Trailer:
https://vimeo.com/269832786