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“Die Zeit ist vergleichbar mit den Mühlen des don quixote”

Von Luca D’A­lessan­dro — Cesare Pic­co wird in Japan als Geheimtipp gehan­delt. Zu Recht, zählt der Pianist aus dem nordi­tal­ienis­chen Ver­cel­li zu jenen Kom­pon­is­ten und Per­formern, die mit neuen Ideen musikalis­che Trends set­zen. Gemein­sam mit dem japanis­chen Sound Design­er Take­to Gohara hat er im Herb­st das Album «Il Tem­po Di Un Giorno» — auf Deutsch über­set­zt «Der Zeitraum eines Tages» — aufgenom­men. Ein inno­v­a­tives Werk, das Klas­sik und Elek­tron­ik in sich vere­int und ver­schiedene Ein­flüsse aus Europa und Fer­nost berück­sichtigt.
Im Gespräch mit ensuite — kul­tur­magazin offen­bart Cesare Pic­co seine Liebe zu Japan, die tägliche Auseinan­der­set­zung mit der Zeit und seine Suche nach dem für seine Arbeit notwendi­gen Lebenselix­i­er: Der Inspi­ra­tion.

ensuite — kul­tur­magazin: Cesare, mit etwas Ver­spä­tung ist dein Album «Il Tem­po Di Un Giorno» auf den Markt gekom­men. Bist du erle­ichtert?

Cesare Pic­co: Ja, sehr. Früher hätte ich gesagt, solche Ver­spä­tun­gen seien für Ital­ien typ­isch. Inzwis­chen habe ich erfahren, dass Verzögerun­gen in der Musik­branche all­ge­mein üblich sind. Am Ende hat das Album den Weg in die Regale der Musikgeschäfte doch noch gefun­den. Das freut mich, beson­ders wenn ich an die Zeit, die Liebe und die Sorgfalt denke, die darin steckt.

Ver­glichen mit deinen Vorgänger­al­ben ist das neue Album auf­fäl­lig ruhig.

Nach der Pub­lika­tion von «My Room – Groovin Piano» im 2005 habe ich einen Wan­del vol­l­zo­gen. Ich habe mich auf mildere Melo­di­en und Klänge beson­nen, nicht zulet­zt dank des Ein­flusses von Sound Design­er Take­to Gohara. Mit ihm habe ich einen neuen Sound entwick­elt: Eine Mis­chung aus Klas­sik und Ele­menten aus der elek­tro­n­is­chen Musik.

Kannst du das verdeut­lichen?

Die Vorstel­lung, dass zwei Klänge aus völ­lig unter­schiedlichen Quellen aufeinan­dertr­e­f­fen und eine der­art stim­mige Ein­heit bilden, fasziniert mich. Bei jedem Auftritt bilden Take­to und ich eine neue Sprache. So unter­schiedlich diese jedes Mal aus­fall­en kann, so ver­schiedenar­tig wird sie von den Hörerin­nen und Hör­ern auch wahrgenom­men. Die einen nehmen diese Sprache ober­fläch­lich wahr, sie find­en sie entwed­er schön oder nicht. Die anderen hinge­gen ver­suchen sie zu ergrün­den, indem sie einen per­sön­lichen, emo­tionalen Bezug her­stellen. So geschieht es mir, wenn ich eine mein­er Auf­nah­men bewusst anhöre: Ich erkenne meine eigene Inspi­ra­tion und das Umfeld, das mich zu dieser Einge­bung gebracht hat. Wenn ich durch die Strassen Mai­lands gehe und mich auf die Geräusche um mich herum konzen­triere, höre ich im ersten Moment eine Mis­chung aus Natur- und Motorengeräusch – nichts Spek­takuläres, lediglich Lärm und Gebrumm. Wenn ich mich aber auf diese Geräusche bewusst ein­lasse, erfasse ich viel mehr: Ich höre Bach, Brahms, Kei­th Jar­rett oder Sakamo­to. Ver­mut­lich bin ich der Einzige, der in dieser Geräuschekon­stel­la­tion genau diese Liai­son her­stellt. Andere wür­den etwas vol­lkom­men anderes ent­deck­en – etwas per­sön­lich Gefärbtes.

«Il Tem­po Di Un Giorno» ist inner­halb von 24 Stun­den ent­standen. Wie kann man sich das vorstellen?

Es han­delt sich um ein Exper­i­ment, das Take­to Gohara und ich spon­tan einge­gan­gen sind. Ich erin­nere mich ganz gut an jenen Abend, als wir uns zur Vorbe­sprechung der Auf­nah­men getrof­fen haben. Ich hat­te bere­its ein paar Kom­po­si­tio­nen zu Papi­er gebracht, als ich Take­to aus ein­er plöt­zlichen Laune her­aus auf­forderte: «Komm, lass uns die Mikro­fone ein­schal­ten und 24 Stun­den lang unsere Ideen, spon­ta­nen Ein­fälle und Inspi­ra­tion ein­fan­gen.» Take­to wurde etwas stutzig, fand die Idee aber reizvoll. Wir legten sofort los. Am Ende des näch­sten Tages hat­ten wir eine ganze Menge musikalis­chen Roh­ma­te­ri­als gesam­melt, welch­es wir für das Album nur noch anzuord­nen braucht­en.

Die Zeit scheint in diesem Album das Leit­mo­tiv zu sein. Zum einen find­et sich der Begriff im Titel wieder, zum anderen hast du dir für die Pro­duk­tion einen engen zeitlichen Rah­men geset­zt. Wie wichtig ist Zeit für dich?

Ich sin­niere immer wieder über meine per­sön­liche Vorstel­lung von Zeit. Gerne stütze ich mich dabei auf Shake­speare, der in etwa sagte, Zeit werde von allen Men­schen mit­tels ver­schieden­er Rhyth­men anders erlebt. Als Musik­er gefällt mir am Zitat die Verbindung aus den Worten Zeit und Rhyth­mus. Ich erforsche die Zeit, die sich in einem Klang ver­birgt. In den weni­gen Sekun­den, in denen er erklingt, sehe ich die Zeit eines Lebens vor mir. Die Zeit ist ver­gle­ich­bar mit den Mühlen aus Cer­vantes’ Don Quixote. Ähn­lich wie der Roman­held sich gegen Wind­mühlen behaupten muss, set­ze ich mich mit der Zeit auseinan­der: Zeit habe ich nie genug, ich bin ständig unter Druck, und para­dox­er­weise find­et in ein­er einzi­gen Sekunde, in der ich am Klavier einen Klang spiele, ein ganzes Leben Platz.

Ein Mühlrad braucht stets frischen Wind, damit es drehen kann. Wo find­est du Inspi­ra­tion für Neues?

Ich inspiriere mich auf meinen Reisen durch die Welt, aber auch in meinen men­tal­en Reisen: Ich lese gerne und lasse mich von visuellen Ele­menten anre­gen, von Fil­men und – ganz banal – vom alltäglichen Leben. Das ist der Wind, der meinen Geist erfrischt und mich auf neue Ideen bringt.

In der europäis­chen Jaz­zszene scheint der Wind nach Osten gedreht zu haben: Die deutsche Jaz­zfor­ma­tion re:jazz zum Beispiel hat im ver­gan­genen Jahr gle­ich zwei Hom­ma­gen an die japanis­che Musikkul­tur pub­liziert. Auch du hast mit Take­to Gohara den Blick nach Fer­nost gerichtet. Woher kommt dieses Inter­esse?

Angesichts der weltweit­en Krise im Musikgeschäft ist der japanis­che Markt im Ver­gle­ich zum europäis­chen ein­träglich­er. Japaner­in­nen und Japan­er greifen für gute Musik gerne mal in die Tasche. In Europa hinge­gen wird lei­der viel kopiert. Es ist daher nachvol­lziehbar, dass sich die Musik­branche ver­stärkt auf den japanis­chen Markt konzen­tri­ert. Abge­se­hen davon bietet die japanis­che Kul­tur uns Musik­ern viel Rohstoff für neue Inspi­ra­tio­nen, Erfind­un­gen und Exper­i­mente.

Eine unent­deck­te Welt, sozusagen.

Nein, das nicht. Japan ist gut erforscht. Den­noch gibt es viele ungerecht­fer­tigte Klis­chees, wonach Japan­er zurück­hal­tend seien, wenn nicht sog­ar kühl im Umgang miteinan­der. Ich habe das Land vor drei Jahren zum ersten Mal sel­ber bereist und mich vom Gegen­teil überzeugt. Es ver­fügt über einen immensen kul­turellen Reich­tum, und das Denken der Leute ist sehr dif­feren­ziert. Ich werde in Japan nie als ital­ienis­ch­er Klavier­spiel­er betra­chtet, son­dern als Europäer. Japan­er erken­nen den Unter­schied zwis­chen mein­er Art, Musik zu machen und jen­er stereo­typ­isierten ital­ienis­chen Kul­tur, wie sie weltweit jed­er ken­nt.

Ver­mut­lich hat das damit zu tun, dass deine Musik etwas Neues ist, also etwas, das gemein­hin nicht bekan­nt ist.

Schon möglich. Die Akustik elek­tri­fizieren und die Elek­tron­ik akus­ti­fizieren, das hat in der Tat etwas Inno­v­a­tives. In mein­er Musik gibt es neb­st Elek­tron­ik und Klas­sik allerd­ings noch einen drit­ten Aspekt, den es nicht zu ver­nach­läs­si­gen gilt, näm­lich die Verbindung zum Jazz.

Wie äussert sich diese Verbindung?

Melodisch ist dieser Bezug nicht offen­sichtlich, method­isch hat meine – oder bess­er gesagt – unsere Arbeit jedoch sehr viel mit Jazz zu tun. Ich fordere Take­to Gohara immer wieder auf: «Impro­visiere mit mir.» Die Impro­vi­sa­tion­skun­st ist typ­isch für den Jazz. Die Mis­chung aus akustis­chen Stilmit­teln, Elek­tron­ik und der Meth­ode des Jazz lässt eine völ­lig neue Sprache entste­hen.

Eine Sprache, die ver­ständlich und ein­fach geblieben ist.

Ja, im Kern steckt die Ein­fach­heit, oder wie wir Ital­iener zu sagen pfle­gen: «La sem­plic­ità». Wenn das Schlichte stil­voll aufge­baut und gelebt wird, wenn darin das Bewusst­sein über die eigene Arbeit steckt, dann hat die Ver­ständlichkeit auch eine Tief­gründigkeit. Ich ver­suche möglichst durch­drin­gend zu kom­ponieren, ganz nach dem Prinzip: Nicht dauernd hinzufü­gen, son­dern auch ein­mal etwas aus­lassen. Es gibt viele grossar­tige Musik­er, die tech­nisch auf höch­stem Niveau spie­len. Lei­der neigen sie dazu, ihre Kom­po­si­tio­nen zu über­laden. Das geht meist zu Las­ten der eige­nen Aus­druck­skraft, was ich sehr schade finde.

Das Genre, das du ver­trittst, lässt sich nur schw­er mit Worten umschreiben. Die einen ord­nen dich der Klas­sik zu, die anderen der Elek­tron­ik. Wo siehst du dich?

Ich stelle mir diese Frage immer wieder. Zumin­d­est im Ansatz glaube ich, eine Antwort gefun­den zu haben. Ich brauche oft die Beze­ich­nung «musi­ca totale» (ganzheitliche Musik. Anm. d. Red.). Diese umfasst zum einen meine Aus­rich­tung auf alles Neue und Uner­forschte, zum andern spiegelt dieser Begriff meine Achtung vor der Ver­gan­gen­heit wieder. In meinem Trib­ute an Johann Sebas­t­ian Bach, «Bach To Me», zum Beispiel kommt dieser Respekt gut zum Aus­druck. Ich bin Bachs Werke mit grösster Sorgfalt ange­gan­gen, habe sie gespürt, gerochen, gekaut und ver­daut. Stravin­sky pflegte zu sagen: «Wer Musik wirk­lich ver­ste­hen will, muss sie zuerst kauen und dann ver­dauen.» Er hat Recht: Ein Voll­blut­musik­er muss in die Musik rein­beis­sen, sie im Munde zerge­hen lassen, sich dann schlafen leg­en, damit er am näch­sten Mor­gen auf­ste­hen und sagen kann: «Ja, jet­zt habe ich die Kom­po­si­tion ver­standen.»

Stell dir vor, du stün­d­est eines Mor­gens auf und dein Piano wäre nicht mehr da.

Das wäre schlimm. Mein Piano stehlen – unvorstell­bar. Etwas jedoch kön­nte mir nicht genom­men wer­den, näm­lich die Geheimnisse, die ich mit meinem Instru­ment teile. Mein Flügel würde an einem frem­den Ort seine Wirkung ver­lieren und allmäh­lich ver­s­tum­men.

Wie ist das, wenn du auf Tournee bist? Auf jed­er Bühne ste­ht ein ander­er Flügel. Sind diese Instru­mente in dein­er Gegen­wart stumm?

(Lacht) Nein, das nicht. Tat­säch­lich habe ich es jedes Mal mit einem anderen Piano zu tun. Ein Vio­lin­ist oder ein Cel­list kann sein Instru­ment über­all­hin mit­nehmen. Wir Pianis­ten haben diese Möglichkeit nicht. Der Vorteil, den wir aber haben, ist, dass wir mit vie­len unter­schiedlichen Pianos Fre­und­schaft schliessen dür­fen. Wir ler­nen sowohl die Mack­en ken­nen, als auch die guten Seit­en und kreieren aus diesen Eigen­schaften etwas Neues. Vor jedem Konz­ert flüstere ich dem Instru­ment zu: «Ich meine es gut mit dir, bitte ent­täusche mich nicht.» Der Trick funk­tion­iert in der Regel ganz gut.

Mit Sound Design­er Take­to Gohara verbindet dich eine enge Fre­und­schaft. Wie bist du auf ihn gestossen?

Ich habe ihn in Mai­land ken­nen gel­ernt. Take­to hat als Ton­meis­ter bere­its bei ver­schiede­nen Pro­jek­ten mit­gewirkt und mit Grössen aus der inter­na­tionalen Musik­szene zusam­mengear­beit­et. Von diesem Know-how prof­i­tiere ich unge­mein. Er nimmt aktiv an der Pro­duk­tion teil; er ver­ste­ht meine Ideen und kann spon­tan Dinge umset­zen.

Mit welchen Ton­werkzeu­gen arbeit­et Take­to?

Sein Instru­men­tar­i­um beste­ht aus vier Maschi­nen: Zwei Air Synths, mit denen er gespe­icherte Sound­ef­fek­te wiedergeben und mit­tels Hand­be­we­gung mod­ulieren kann. Ausser­dem set­zt er zwei Sequencer ein, die er benutzt, um vere­inzelt Pianopas­sagen zu verz­er­ren und zu wieder­holen. Mit diesen Instru­menten und der Sit­zord­nung geben wir auf der Bühne ein lustiges Bild ab: Wie zwei Beamte, die an ihrem Arbeitsin­stru­ment sitzen und sich gegen­seit­ig anstar­ren. (lacht)

Ist das nicht ver­wirrend für dich als Pianist, wenn während des Spiels deine eige­nen Sequen­zen wieder­holt wer­den?

Nein, keines­falls, Take­to arbeit­et sehr genau. Er stört mit seinen elek­tro­n­is­chen Ein­la­gen den Fluss der Melodie nicht. Im Gegen­teil: Er hat ein feines Gespür und weiss haar­ge­nau, was wohin passt, und wie es einge­set­zt wer­den kann. Take­to han­delt im Sinne der Ein­fach­heit. Er fügt nicht wahl­los Ele­mente hinzu, son­dern set­zt sie gewis­senhaft und massvoll ein. Während der Pro­duk­tion von «Il Tem­po Di Un Giorno» gab es nie einen Augen­blick, in dem ich mich an seinen Soundein­la­gen gestört hätte.

Was sind deine näch­sten Pro­jek­te?

Für Jan­u­ar sind diverse Konz­erte in Ital­ien geplant, dann kommt am 4. Feb­ru­ar 2009 ein Konz­ert am Teatro Sociale di Bellinzona hinzu. Im Früh­jahr wer­den Take­to und ich nach Japan reisen, wo wir «Il Tem­po Di Un Giorno» veröf­fentlichen und gle­ichzeit­ig eine Rei­he von Konz­erten geben wer­den. Neben­bei schreibe ich Kom­po­si­tio­nen für ver­schiedene The­at­er­auf­führun­gen und arbeite mit Can­tau­tori wie Gior­gia zusam­men.

Wo stehst du in fünf Jahren?

Physisch ver­mut­lich nicht mehr in Ital­ien.

Du willst auswan­dern?

Auswan­dern ist etwas viel gesagt. In den ver­gan­genen Jahren habe ich eine enge Beziehung zu Japan hergestellt. Ich kön­nte mir vorstellen, ein Leben in Japan aufzubauen. Aber das sind Visio­nen, ob sie sich bewahrheit­en, ist nicht gewiss. Klar ist, dass ich alles daran set­zen werde, meine Neugierde und die Freude am Exper­i­men­tieren nicht zu ver­lieren. Ich will nicht ver­s­tum­men.

Bild: zVg.
ensuite, Jan­u­ar 2009

Artikel online veröffentlicht: 26. Juli 2018