Von Alexandra Zysset - Man merkt ihm an, dass er in einem politischen Haus-halt aufgewachsen ist. In beherrscht aufrechter Position sitzt Nir Baram da, schlägt die Beine übereinander und nimmt einen Schluck Wasser, bevor er spricht. Sein Ausdruck ist von unerschütterlichem Ernst, die Stirn unverkrampft, und wenn er seine Antwort zu einem Statement hin pointiert, finden die Hände stets in einer Choreografie der schlichten Rhetorik zusammen. Im Rahmen des Jüdischen Filmfestivals Yesh!, wo sein Dokumentarfilm «A Land Without Borders» lief, habe ich ihn für ensuite – Zeitschrift zu Kultur & Kunst getroffen. Ein Interview zu Medien, Meinungen, Manierismen und natürlich dem Nahostkonflikt.
Nir Baram, Ihr Buch «Im Land der Verzweiflung» kam 2016 heraus, die filmische Adaption letztes Jahr. Wenn ich heute* eine Zeitung durchblättere, stosse ich kaum auf Artikel zum Nahostkonflikt. Heisst das, dass sich die Situation in Israel und Palästina verändert hat?
Nein. Zwischen meiner ersten Reise und dem Film gab es zwar eine Phase der Gewalt – die Messer-Intifada – und für kurze Zeit wurde in den internationalen Medien darüber berichtet. Doch dann trat wieder Stille ein. Ich glaube, der Konflikt ist im Grunde derselbe geblieben. Und das ist etwas, das mir Angst macht. Es wird immer wieder gesagt, die politische Situation im Nahen Osten sei untragbar, aber die letzten Jahrzehnte haben bewiesen, dass der Status quo sehr wohl tragbar ist. Das erklärt übrigens auch Netanjahus Erfolg: Die Leute in Israel suchen nicht mehr nach Lösungen, weil sie denken, dass dieser Zustand die Lösung sei. Und das friert die ganze Diskussion ein.
Bereits mit Ihrem Reportagenbuch haben Sie dieser Starre etwas entgegengehalten. Warum wollten Sie daraus noch einen Film machen?
Hauptsächlich aus zwei Gründen: Ich komme von der Literatur her und liebe das geschriebene Wort. Aber mir ist durchaus bewusst, dass Bilder einen anderen Effekt haben als Texte. Wenn du etwas siehst, beeinflusst es dich auf eine ganz andere Art, als wenn du etwas liest. Die Szenen der brennenden Müllberge in Jerusalem zum Beispiel provozieren einen sinnlichen Schock, den die entsprechende Stelle im Buch nicht vermitteln kann. Ausserdem wollte ich meine Recherchen und Gedanken einem breiteren Publikum zugänglich machen. Das Buch war in Israel zwar ein Bestseller – trotzdem wird der Film mehr Leute erreichen.
Der zweite Grund ist, dass das Buch sehr unpersönlich war. Meine Herkunft und politische Erziehung spielten darin kaum eine Rolle. Das wollte ich mit dem Film ändern, weil ich glaube, dass es für meine Generation wichtig ist, das Ganze mit meinen Augen zu sehen. Schliesslich ist sie mit der Zweistaatenlösung als Hoffnungsmodell aufgewachsen.
Sie selbst haben lange an eine Zweistaatenlösung mit den Grenzen von 1966 geglaubt. Heute verwenden Sie dafür aber den Begriff «Zombievision». Wann haben Sie Ihre Meinung geändert und wie kam es dazu?
Die Zweistaatenlösung ist tot. Ich weiss, es fällt schwer, das zu akzeptieren, aber es ist nun mal die Realität. Wir haben es versucht und sind gescheitert. Punkt. Es nützt nichts, weiter zu behaupten, die Zweistaatenlösung lebe noch, wenn jeder insgeheim weiss, dass sie veraltet und undurchführbar ist. Genau das tun wir von der Israelischen Linken nämlich: Wir klammern uns an eine tote Idee, anstatt nach neuen zu suchen. Aus diesem Grund spreche ich von einer «Zombievision».
Persönlich begann ich meine Ansichten zu hinterfragen, als ich palästinensische Flüchtlinge jenseits des Nahen Ostens kennenlernte. Mit meinen Romanen war ich überall auf der Welt unterwegs und so traf ich Diasporamitglieder in Chile, Argentinien, Europa und den USA. Ich ging auf sie zu und sagte, ich sei für die Zweistaatenlösung. Ihre Reaktion war immer dieselbe, sie fragten: Und was ist mit mir? Ich fragte zurück: Was soll mit dir sein? Meine Familie wurde 1948 aus Haifa deportiert, sagten sie. Oder aus Tiberias oder Tel Aviv. Wie hilft die Zweistaatenlösung mir? Und je mehr ich ihnen zuhörte, desto mehr verstand ich, dass wir in diesem grundsätzlichen Missverständnis gefangen sind. Wir sprechen die ganze Zeit von 1967. Doch darum geht es den Palästinensern nicht. Sie wollen zurück in die Städte und Dörfer, in denen ihre Familien vor der Nakba 1948 gelebt haben. Unabhängig davon, auf welcher Seite der grünen Linie die heute sind.
Die Israelische Linke hat die Nakba, so nennen die Palästinenser ihre Vertreibung aus dem israelischen Staat, also verdrängt?
Komplett. Sie haben es im Film ja selbst gesehen: in der Szene, in der ich meinen Vater (Anm.: den Politiker Uzi Baram) darauf anspreche. Das Gespräch dauert keine fünf Minuten. Doch verrät es Ihnen alles über die Linke in Israel und die Art und Weise, wie sie die Erinnerung an 1948 unterdrückt. Für sie ist die Vertreibung ein Tabu. Denn auch viele linke Friedensfreunde leben auf dem Land von palästinensischen Flüchtlingen – und das ist natürlich ein Problem.
Haben Sie dieses Tabu gebrochen?
Nein, ich habe kein Tabu gebrochen. Es gab schon vorher Bücher und Filme, die 1948 thematisierten. Nur beschränkten sie sich auf Selbstbezichtigung – oder Beschwichtigung. «A Land Without Borders» veränderte das Narrativ insofern, als dass meine Botschaft an die Israelis ist: Wir müssen über 1948 reden, wenn wir Frieden wollen. Es geht nicht um geschichtliche Aufarbeitung, sondern um unsere unmittelbare Gegenwart. Wir müssen 1948 als Schlüssel und nicht als Hindernis zur Lösung des Konflikts verstehen.
Übrigens möchte ich nicht missverstanden werden: Dieses Interview soll nicht so klingen, als würde ich sentimental um Vergebung bitten. Ich bin keiner von denen, klar? Ich denke zwar, dass Israel sich rechtfertigen muss: Die Palästinenser haben die UNO-Resolution nicht unterschrieben – Israel schon. Aber ich will damit nicht sagen, dass wir Kriminelle sind. Alles, was ich sage, ist: Es gab Krieg. Wir haben viele Palästinenser deportiert, manche von ihnen ganz ohne Grund. Und wir müssen mit den Flüchtlingen reden und ihnen Zugeständnisse machen, wenn wir Frieden wollen.
Verstanden. Wie wurde Ihr Film denn in Israel aufgenommen?
Ach. Ich habe alle Reaktionen gekriegt, die möglich waren. Metaphorisch ausgedrückt, habe ich ja in mein eigenes Lager geschossen. Viele Linke meinten, mein Film würde bloss der Rechten helfen. Weil deren Argument ist, dass die Palästinenser kompromisslos sind und all unser Land wollen. Aber ich habe auch Leute gesehen, die nach der Vorstellung am Boden zerstört waren. Für sie war es, als hätte ich ihre ganze politische Überzeugung genommen und während zweiundsechzig Minuten langsam zerpflückt. Das ist schmerzhaft, ich weiss. Auch für mich war es ein schwieriger Prozess. Trotzdem ist die Konfrontation nötig. Wir haben uns schon viel zu lange mit toten Ideen abgegeben. Jetzt brauchen wir Hoffnung und neue Lösungsansätze. Gerade in dieser Hinsicht, denke ich, sind das Buch und der Film wich-tig für die Israelis.
Sie stellen in beiden Medien einen solchen Lösungsansatz vor: Das Projekt «Two States, One Homeland», in das Sie selbst involviert sind.
Involviert war.
Warum «war»?
Aus persönlichen Gründen. Ich hatte den Eindruck, dass ich der Bewegung bis zu einem bestimmten Punkt helfen konnte, Aufmerksamkeit zu erlangen. Das habe ich getan. Denn ich glaube, ihre Idee – die so gut und so voller Hoffnung ist – sollte weiterentwickelt und unterstützt werden. Leider stecken die Leute noch immer viel zu viel Geld in den Konflikt. Sie spenden es an Organisationen, die keine klare Vision haben und nichts verändern. Daher ist es umso bedauernswerter, dass diese Bewegung auch finanzielle Schwierigkeiten hat. Ich bin noch immer überzeugt davon, dass ihre Idee unsere Lösung für die Zukunft ist. Spätestens in zehn Jahren werden wir sehen, dass es der einzig mögliche Weg ist.
Heute zeigten Sie Ihren Film in Zü-rich. Was erwarten Sie von Europa bezüglich des Konflikts?
Wissen Sie, ich bin etwas desillusioniert, was die Rolle der Europäer betrifft. Ich denke, dass sie in dem ganzen Konflikt nicht hilfreich waren, nicht hilfreich sind und auch nicht hilfreich sein werden. Nach den Sanktionen gegen das Apartheidregime haben viele israelische Linke gehofft, dass Europa auch in Israel eine Lösung erzwingen würde. Als ich klein war, war es ein gängiges Argument, zu sagen, die Welt würde die Besatzung nicht dulden. Aber schauen Sie sich um: Die Welt duldet die Besatzung jetzt seit fünfzig Jahren und nichts hat sich verändert. Ich finde es einfach nur unverschämt, dass die Leute noch immer davon reden. Mit dem Buch und dem Film richte ich mich daher gezielt an die israelische Linke. Ich versuche, ihnen zu sagen: Wacht endlich auf, niemand wird uns zur Rettung kommen. Wir müssen unser Problem selbst lösen – und zwar gemeinsam mit den Palästinensern. Anstatt darüber nachzudenken, wie wir die Europäer um Hilfe bitten könnten, sollten wir besser darüber nachdenken, wie wir wieder an Einfluss gewinnen können, denn im Moment ist die Linke in Israel sehr schwach.
Jedenfalls denke ich, dass wir die Bedeutung der Meinung der Europäer nicht überhöhen sollten.
Aber sind nicht gerade die Länder, die aktiv an der Schoah beteiligt waren – nicht nur Deutschland, auch Österreich, Frankreich und Italien –, dazu verpflichtet, Solidarität gegenüber Israel zu zeigen?
Ich will nicht für diese Länder sprechen – schon gar nicht für Deutschland. Es ist offensichtlich, dass die Deutschen Mühe haben, in dieser Diskussion objektiv zu bleiben. Deshalb denke ich auch, dass sie als Vermittler ungeeignet sind. Aber wie gesagt: Europa wird den Konflikt nicht lösen. Wir haben diesen Ansatz versucht und sind damit gescheitert. Es ist also nicht wirklich wichtig, was Deutschland im Moment denkt.
Sie schreiben im Vorwort zu «Im Land der Verzweiflung», dass viele Israelis eine starke Meinung zum Konflikt haben, obwohl sie noch nie in den besetzten Gebieten oder im Westjordanland waren. In Europa ist es natürlich nicht anders. Warum also sollte ich Ihr Buch überhaupt lesen oder mir den Film ansehen? Beides wird für mich bloss eine Quelle aus zweiter Hand sein.
Das ist noch immer besser als gar keine. Der Film und das Buch richten sich zwar in erster Linie an ein israelisches Publikum. Trotzdem finde ich es wichtig, dass auch Ausländer wie Sie sich damit beschäftigen. Es zeigt Ihnen schon nur, wie wenig Sie wissen. Selbst für mich als Schriftsteller – und ich lebe da – ist es schwierig, den Konflikt zu verstehen. Dass Sie eine Meinung zu Israel haben, kommt mir daher genau so heikel vor, wie wenn ich eine zur Schweiz hätte. Ihr habt bestimmt eure Probleme hier. Doch durchs Fernrohr betrachtet, könnte ich sie nie richtig erfassen. Von den Teilen der jüngeren Generation, die sich dafür interessieren, erwarte ich deshalb ein weniger steifes Weltbild und mehr Offenheit für eine komplexe Realität. Hört auf, in plumpen Slogans zu sprechen, versucht, genau hinzusehen. Und versteht, dass wir an-dere Ansätze und Lösungen sowie differenzierte Gespräche brauchen.
Da kommt mir das erste Kapitel Ih-res Buches in den Sinn. Die Geschichte von den zwei jungen Palästinensern, die mit Kabelbindern gefesselt am Strassenrand knien. Sie beschreiben, wie die israelischen Soldaten sie festnehmen, und als Leserin denke ich erst an eine willkürliche Verhaftung, dann an Terrorismus. Die israelischen sowie die palästinensischen Medien teilen diesen kontrastreichen Blick. Gibt es überhaupt eine objektive Berichterstattung?
Nein, gibt es nicht. Diese Geschichte sagt ja schon alles. Für die Israelis, die in ihrem Wohnzimmer sitzen und Radio hören, sind es zwei mit Messer bewaffnete Palästinenser, die «Allahu akbar» gerufen haben und auf die Soldaten losgegangen sind. Wenn Sie nicht das Buch gelesen haben, haben Sie nie etwas anderes gehört. Auf palästinensischer Seite hingegen wurde der Vorfall gar erst nicht erwähnt. Also, was ist geschehen? Die Wahrheit – und hier das Ende der Geschichte – ist absurd: Die zwei Palästinenser übergaben den Soldaten ihre Messer und liessen sich absichtlich verhaften, weil sie als Gefängnisinsassen einen Lohn ausgezahlt bekommen. Hinter den eingängigen Schlagzeilen steckt also eine viel kompliziertere Realität. Um die zu finden, muss man zum Teil grosse Anstrengung auf sich nehmen. Ich meinerseits hätte nie erfahren, was da passiert ist, hätte ich nicht recherchiert.
Denken Sie, Sie können mit Ihrer Arbeit etwas bewirken?
Schauen Sie, ich bin Schriftsteller und schreibe hauptsächlich Romane. Zwar habe ich für dieses Buch und für diesen Film auf die Fiktion verzichtet. Doch heisst das nicht, dass ich den Anspruch erhebe, damit die Welt zu verändern. Ich habe eine Reise gemacht, mit Leuten geredet und Antworten gesucht, nachdem ich den Glauben an meine alte politische Überzeugung verloren hatte. Jetzt will ich teilen, was ich gefunden habe. Wenn jemand sich den Film ansieht und zum Schluss kommt, dass es keine Lösung des Konflikts gibt, respektiere ich das. Alles, was ich von einem erwachsenen Menschen verlange, ist, dass er sich mit meiner Recherche auseinandersetzt.
*Das Interview wurde am 20.3.2018 geführt
Nir Baram
Nir Baram, 1976 in Jerusalem geboren, ist Schriftsteller, Journa-list und Lektor und setzt sich aktiv für die Gleichberechtigung der Palästinenser und für Frieden in Israel ein. Bei Hanser erschien 2012 sein Roman «Gute Leute», ausgezeichnet mit dem Prime Minister Award for Hebrew Literature 2010, ausserdem «Im Land der Verzweiflung» (Ein Israeli reist in die besetzten Gebiete, 2016) und «Weltschatten» (Roman, 2016). Nir Baram lebt in Tel Aviv. (Quelle: Carl-Hanser-Verlag)
«A Land Without Borders»
Nach dem gleichnamigen Buch (auf Deutsch: «Im Land der Verzweiflung»), reist der Schriftsteller Nir Baram noch einmal in die besetzten Gebiete, wo er mit Siedlern und ehemaligen Hamas-Führern, mit säkularen und religiösen VertreterInnen beider Parteien spricht. Ergebnis ist eine differenzierte Be-trachtung des Konflikts, die weder Ausflüchte nimmt noch in einer Sackgasse endet.