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“Dr Türk vom Block”

Von Anto­nio Suárez Varela — Ein junger Türke aus Bern macht mit ein­er trendi­gen Radioshow auf sich aufmerk­sam. Im Unter­grund ist er schon längst eine feste Grösse. Jet­zt will er mit seinem Com­e­dy-Pro­gramm auch die Lim­mat­stadt erobern. Ein Porträt.

«Ein Mann, ein Mikro­fon, eine Stadt, eine Liebe.» So lautet der Pro­log ein­er Erfol­gs­geschichte, die es eigentlich nicht geben kann, nicht geben dürfte? Eine Geschichte, wie man sie aus Ameri­ka ken­nt und weniger aus einem Land wie der Schweiz, wo ger­ade in der Medi­en­branche manch­mal der Mut zu Neuem fehlt und wo man sich noch zu oft mit dem Mit­tel­mass zufrieden gibt.

Bern – Zürich, ein­fach Aus­gerech­net hier also schafft es ein Mann mit Migra­tionsh­in­ter­grund und C‑Ausweis, noch dazu ohne nen­nenswerte zer­ti­fizierte Spezialaus­bil­dung, dafür mit Pri­marschu­la­b­schluss, ohne Demut und Beschei­den­heit, dafür mit einem über­grossen Ego und ein­er vor­laut­en Klappe; aus­gerech­net so ein Mann also schafft es vom unbezahlten Ama­teursendungs­mach­er bei einem Bern­er Alter­na­tivlokalsender zum Ein­stieg als Profi­mod­er­a­tor bei einem Zürcher Pri­va­tra­dio.

Es geht um einen Türken aus dem Bern­er Wylerquarti­er, deren Eltern sich ihr Brot hart ver­di­enen und — wie die meis­ten Ein­wan­der­er — ohne Rück­la­gen eine Exis­tenz auf­bauen mussten. Es scheint, als käme dieser Mann direkt aus dem Ghet­to: Denn von dort hat er zwar nicht viel Kohle und Con­nec­tions mit­ge­bracht, dafür eine Idee, ein Ziel, die Musik und… die Nest­wärme. Er nen­nt sie «Love» und ver­langt von seinen Hör­ern, dass sie ihm diese Liebe gefäl­ligst ins Stu­dio brin­gen, damit man es bess­er aushält in dieser Stadt.

Fün­fzehn Monate lang war er jeden Don­ner­stagabend im lokalre­gionalen FM-Bere­ich zu hören. Selb­st als er wegen ein­er Diskush­ernie rekon­va­leszent im Spi­tal­bett lag, liess er seine treuen Hör­er nicht im Stich und mod­erierte ganz ein­fach per Tele­fon. Er hat sich über das Mikro­fon seine Stadt erobert, seine Com­mu­ni­ty um sich geschart. Black Music & Com­e­dy waren sein Pro­gramm. Am Ende hin­ter­lässt er sein­er Heimat­stadt eine untröstliche Fange­meinde und dem Lokalsender Radio RaBe real nicht existierende Traumquoten. Am Abend sein­er let­zten Sendung, es war der Don­ner­stag, 29. Mai, kurz nach 22.00 Uhr, nen­nt er den Titel seines let­zten Songs. Er lautet «Mon­ey Makes The World Go Round». In Bern ist er gross gewor­den. Und Zürich wirbt ihn nun ab.

Rebel­lis­ch­er Farb­tupfer im Meer der For­ma­tra­dios Der Mann, der sich als Farb­tupfer im Meer der For­ma­tra­dios sieht und den Draht zur Jugend hat, ver­di­ent nun sein Geld mit dem, was er am lieb­sten macht: Radio. Er hat es also geschafft. Er hat seine Eltern nicht ent­täuscht. Und sie haben nie aufge­hört, an ihn zu glauben.

Die Semih Supreme Show auf Radio RaBe war ein Ren­ner. Und deren Mod­er­a­tor ist erfrischend anders, so ziem­lich genau das Gegen­teil dessen, was man son­st so im Äther vern­immt. Und er ist ver­dammt gut! Wenn er ans Mikro­fon tritt, dann erwacht selb­st der grösste Phleg­matik­er aus der Lethargie. Er ist — ganz unberner­isch — «die schnell­ste Fresse von Bern» (Eigen­wer­bung). Sein Name: Semih «Supre­mo» Yavsan­er.

Er ist kein unbeschriebenes Blatt, hat er es doch vor fünf Jahren ein­mal zu nationaler Promi­nenz gebracht, und zwar mit einem Song, der zum offiziellen Sound­track des Schweiz­er Kinofilms «The Ring Thing» erko­ren wurde, eine Blödel­par­o­die auf «Herr der Ringe». Er hat­te einen Plat­ten­ver­trag in der Tasche. Doch die eingeschla­gene Pop­kar­riere schlug eine «falsche Rich­tung» ein, sagt er im Gespräch mit ensuite — kul­tur­magazin. Er, der mit vierzehn Jahren im Jugendtr­e­ff «Graf­fi­ti» ange­fan­gen hat­te zu rap­pen, hat­te keinen Bock auf dieses «hyper­kom­merzielle Ding», weil sie ihm die Frei­heit nah­men, sich selb­st zu sein.

Davor, dazwis­chen und danach war er eine Zeit­lang in der Telekom­mu­nika­tions­branche tätig, jobbte sich durch, war zeitweise arbeit­s­los und ver­schuldet. Der Grat zwis­chen Erfolg und Mis­ser­folg ist schmal. Die Per­spek­tiv­en sahen nicht immer gut aus für diesen frischge­back­e­nen Fam­i­lien­vater. Ein­er sein­er Jin­gles, die er für die Sendung pro­duziert hat, legt beredtes Zeug­nis davon ab: «Eine Stunde Black Music und Com­e­dy. Für alle Leute, die es im Leben nicht geschafft haben, und für all jene, die es nicht schaf­fen wer­den.» Seine Behar­rlichkeit hat sich bezahlt gemacht. Jet­zt macht er das, was er schon immer wollte.

Dabei hat­te Semih das Medi­um Radio erst spät für sich ent­deckt. Ein Tape mit ein­er aufgeze­ich­neten Sendung des tex­anis­chen Radiosenders K104, das ihm sein Brud­er — seines Zeichens türkisch­er Bas­ket­ball-Inter­na­tionaler — aus den Vere­inigten Staat­en mit­brachte, ent­fachte in ihm das Feuer. «Der Mod­er­a­tionsstil fuhr mir unter die Haut. Ich wusste sofort, dass ich etwas in der Rich­tung machen musste», erin­nert er sich, «denn so etwas gab es hier in der Form nicht».

«Wir kommen aus Quartieren und wuchsen in Elternhäusern auf, wo nach der Schule niemand zu Hause war, weil alle arbeiten mussten. Mein Bruder, meine Schwester und ich teilten ein Zimmer. Wir hatten wenig, aber dieses Wenige hat uns menschlich weitergebracht. Heute haben viele Leute sehr viel, aber geben sehr wenig.»

Die Sprache der Strasse Punk­to For­mat und Struk­tur bieten seine Sendun­gen nicht viel Neues. Auch sie leben von Erken­nungssignet, Jin­gles, Teasern, Songtiteln, Stu­dio­gästen, An‑, Zwis­chen- und Abmod­er­a­tion. Es sind vor allem Stil und Sprache, die seine Sendun­gen ausze­ich­nen. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und spricht, wie ihm der Schn­abel in den Sec­on­dos-Vierteln gewach­sen ist. Er bedi­ent sich ganz selb­stver­ständlich englis­ch­er Ein­sprengsel der Hip-Hop-Kul­tur und benutzt Floskeln wie «Weisst du, was ich meine» oder Wörter wie «Mann!» oder «okay». Es ist die Sprache der Strasse. Er nen­nt sie iro­nisch «prim­i­tive Sprachkul­tur». Es ist die Sprache der unter­sten sozialen Schicht­en.

«Wir kom­men aus Quartieren und wuch­sen in Eltern­häusern auf, wo nach der Schule nie­mand zu Hause war, weil alle arbeit­en mussten. Mein Brud­er, meine Schwest­er und ich teil­ten ein Zim­mer. Wir hat­ten wenig, aber dieses Wenige hat uns men­schlich weit­erge­bracht. Heute haben viele Leute sehr viel, aber geben sehr wenig.» Oft wurde er wegen seines Slangs nicht ernst genom­men. Doch Semih kon­nte seinen Sprach­stil nicht ändern, ohne seine Iden­tität zu leug­nen. «Ich kann meine Sto­ries nur in dieser, mein­er Sprache erzählen! Es geht darum, dass wir ein­mal uns sel­ber sein kön­nen. Der Grundgedanke mein­er Sendun­gen ist: Authen­tiz­ität und Wahrheit, keine Kün­stlichkeit.»

Robo­cop-Radio Von dieser Kün­stlichkeit näm­lich gibt es schon genug. «Man führt ein Robo­cop-Leben, kommt nach der Arbeit nach Hause und hört Robo­cop-Radio. Es fehlt das Men­schliche. Die Men­schen durch­schauen die plat­ten TV- und Radio­for­mate.» Diesem «pein­lichen Flow da draussen» musste er etwas ent­ge­gen­hal­ten. Semih «disst» Leute wie Mike Shi­va und andere Schar­la­tane. «Es ist mir ein Rät­sel, dass der Staat über­all ein­greift, aber wenn man in den Unter­hal­tungsme­di­en die Leute für dumm verkauft, passiert nichts. Es gibt Leute, die solchen Schund glauben und solche wie ich, die etwas dage­gen unternehmen», sagt er überzeugt.

«Viele Radiomod­er­a­toren kön­nen sehr ober­fläch­lich sein. Mir ist es Wurst, ob ein­er dieser Mod­er­a­toren ein gross­es Tier ist, solange ich ihn als Men­schen nicht spüre. Die meis­ten ver­suchen es erst gar nicht, eine Con­nec­tion mit den Hör­ern herzustellen, wie ich es tue. Sie spüren den Men­schen nicht und sehen nur das Raster: ‹Wie heisst du? Woher ruf­st du an? Was machst du ger­ade? Warum willst du den Preis gewin­nen? Schön, hast du angerufen. Willst du jeman­den grüssen?› Mit diesem typ­is­chen For­ma­tra­dio stirbt alles.»

Enter­tain­ment, Com­e­dy und ein Schuss Sozial­ro­man­tik In den let­zten Jahren hat er ver­bis­sen an seinen Skills gear­beit­et, lernte Jin­gles zu pro­duzieren und mit einem Sequen­z­er umzuge­hen. Wenn er eine Idee hat, dann muss er sie sofort umset­zen. Er kann nicht eine Woche warten, bis ein Tech­niker Zeit hat. Deshalb hat er sich sein eigenes Stu­dio ein­gerichtet.

Mit der Kom­bi­na­tion von Satire, Unter­hal­tung und Black Music glaubt Semih den Jack­pot gek­nackt zu haben. Er ist überzeugt von seinem Sende­for­mat. Und die «schweizweit phänom­e­nalen Feed­backs» geben ihm recht. «Ich mache Radio so, wie ich es sel­ber gerne hören würde. Und ich habe den Geschmack viel­er Leute getrof­fen.»

In seinen Sendun­gen wer­den vor­wiegend Hip-Hop- und R&B‑Hits gespielt. Auch seine Jin­gles und Eigen­pro­duk­tio­nen (darunter gesun­ge­nes Mate­r­i­al) greifen auf Genre-Klas­sik­er zurück: Man erken­nt Songs wie den G‑Funk-Ever­green «Reg­u­late» von War­ren G, den 80er-Jahre-Hit «Got­ta Get You Home Tonight» von Eugene Wilde oder Michael Jack­sons «Thriller». Die Jin­gles sind pro­fes­sionell pro­duziert und erin­nern an Kino-Trail­er. Es wird mit der grossen Kelle angerührt. Der Hör­er wird umschme­ichelt mit Ansagen wie «Enjoy the Semih Supreme Show. Be part of a move­ment!». Der einzige Unter­schied zu pro­fes­sionellen Radioshows ist der, dass Semi­hs Sendun­gen nicht von grossen Wer­be­trägern gespon­sert wer­den, son­dern von merk­würdi­gen Insti­tu­tio­nen wie dem «Vere­in für fehlgeschla­gene Inte­gra­tion», der «Notschlaf­stelle Tägertschi», der «Alko­hol­li­ga Bern» und dem «Obdachlosen­vere­in Lor­raine West».

«Ich mache Radio so, wie ich es selber gerne hören würde. Und ich habe den Geschmack vieler Leute getroffen.»

Semih geht es darum, «das Ohr der Zuhör­er zu erobern», und das geht am ein­fach­sten mit Humor, «denn die Leute lachen gerne». Sein Zielpub­likum ist eher jung, trotz­dem umfasst es mehrere Gen­er­a­tio­nen: Vom 13-jähri­gen Teenag­er im Wieder­hol­ungskurs bis zum 37-jähri­gen Kader­mann ein­er Ver­sicherungs­fir­ma. Semih Yavsan­er ist überzeugt, dass Hip-Hop den Lifestyle von Jugendlichen zwis­chen 16 und 26 Jahren bes­timmt. «Hip-Hop ist all­ge­gen­wär­tig!» Doch es sei oft sehr schwierig, diese Leute zu erre­ichen. Er macht sich Gedanken, was im Kopf eines Jugendlichen oder eines jun­gen Erwach­se­nen vor sich geht und spricht The­men an, über die oft geschwiegen wird, aber ger­ade in der derzeit­i­gen Kathar­sis des neolib­eralen Kred­it- und Finanzsys­tems aktuell sind. Zum Beispiel das The­ma Schulden, eine Sorge, die «unsere Gen­er­a­tion» beschäftigt, denn «wir haben uns mit dem Aufkom­men von Handys, Flach­bild­schir­men, Com­put­ern, Inter­net und Leas­ing­pro­duk­ten ver­schuldet». Die gesellschaftliche Real­ität und der soziokul­turelle Back­ground der Men­schen inter­essieren ihn.

Semih ver­sucht seine Iden­tität nicht etwa zu kaschieren, um angepasst zu wirken und ja nicht aufz­u­fall­en. Im Gegen­teil: Er singt aus voller Kehle von sein­er türkischen Iden­tität und beschreibt, mit welchen Vorurteilen man sich als Aus­län­der kon­fron­tiert sieht. Ein­er sein­er Texte lautet: «Si luege mi a i dr Beiz / Wüu ig ä C‑Uswis ha / Kene seit sälü wie gei­hts / U kene fragt, was ig äch gmacht ha / Mit schüche Blicke luege si di vo obe bis unde a / Frage sech was ig für eine bi / U was ig hie ver­lore ha / Ha geng e chli Schulde, viu Teer uf dr Lunge u ras­sis­tis­chi Sprüch tüe mir lang nümme weh (2x) / Wüu ig e Türk bi (7x)». Dieser von Göläs Hit «Büet­zer» abgekupferte und angepasste Song­text ist Semi­hs Antwort auf die Frage nach der sozialen Heimat. «Dieses Lied von Gölä sprach vie­len Schweiz­ern aus dem Herzen. Ich dachte mir: Wenn es für einen Türken so ein Lied gäbe, welchen Text müsste es wohl haben?», erin­nert sich Semih.

Viele sein­er Texte und Radio-Sketch­es beschäfti­gen sich mit dem kul­turellen Gegen­satz zwis­chen Schweiz­ern und Aus­län­dern. Aus diesen Gegenüber­stel­lun­gen und der Überze­ich­nung gängiger Klis­chees und Stereo­typen erzeugt er Humor und Sit­u­a­tion­skomik. Es geht Semih aber darüber hin­aus auch um die Bekämp­fung von Vorurteilen.

Kampf gegen Klis­chees und Vorurteile Aus­län­der der ersten und zweit­en Gen­er­a­tion wer­den medi­al oft in Verbindung gebracht mit dem The­menkom­plex Krim­i­nal­ität, Dro­gen, Gewalt, Armut, Bil­dungs­de­fizite und Kon­ve­nien­ze­hen. Diese ständi­ge Assozi­ierung zemen­tiert oft bere­its beste­hende Denkmuster. Semih kann es nicht ausste­hen, dass Aus­län­der im «Schmarotzer­licht» ste­hen. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Men­sch so beschränkt sein kann, von ein­er Schlagzeile in den Medi­en auf eine ganze Bevölkerungs­gruppe zu schliessen.»

Semih Yavsan­er spricht aus eigen­er Erfahrung. Er kann nicht ver­ste­hen, dass ein Kroate, nen­nen wir in Goran, von seinen Arbeit­skol­le­gen mit der Frage provoziert wird: «Ist es nor­mal bei euch, 300 km/h zu fahren?», bloss weil eine Boule­vardzeitung davon berichtet, dass ein kroat­is­ch­er Jugendlich­er durch die Wohn­zone gerast ist. «Ich selb­st habe das erlebt. Es gab Fälle von häus­lich­er Gewalt und Ehren­mor­den unter Türken. Als diese Mel­dun­gen in den Medi­en waren, bekam ich eine Mail von einem Arbeit­skol­le­gen ein­er anderen Abteilung, der mich darauf ansprach, bloss weil ich zufäl­lig Türke bin.» Semih hat dieses Schubladen­denken satt. «Das sind dumme und ein­fältige Leute, die oft­mals zu meinem eige­nen Erstaunen wohlhabend sind und gesellschaftlich ange­se­hene Posi­tio­nen haben. Sie haben aber keine Ahnung, wovon sie sprechen.» Hin­ter sein­er Radioshow steckt keine poli­tis­che Moti­va­tion, betont Semih. «Die Mes­sage ist wichtig; wenn das schon poli­tisch ist, dann ist es halt so», meint er lakonisch.

Der zweifels­frei grösste Clou ist Semih bei der Erschaf­fung sein­er Kun­st­fig­ur gelun­gen: Müs­lüm. Seine Tele­fon­scherze sind bere­its Leg­ende. Müs­lüm ist ein Mittvierziger aus der Türkei, ohne starke famil­iäre Bindun­gen. Er hat die Schweiz­erin Roswitha geheiratet — man ist sich nicht sich­er, ob er das wegen der Schweiz­er Nieder­las­sung getan hat. Mit den Schweiz­er Sit­ten ist er nicht sehr ver­traut, weshalb er ab und zu mit dem Gesetz in Kon­flikt gerät, obwohl er ein anständi­ges Leben führen möchte. Er ist eine Art Los­er vom Bosporus.

Müs­lüm — ein mod­ern­er Robin Hood aus Ana­tolien Semih spricht in ein­er tief­er­en Ton­lage, wenn er Müs­lüm spielt. Er hat die Rolle so sehr verin­ner­licht, dass viele Hör­er gar nicht glauben, dass Semih per­sön­lich dahin­ter steckt. «Das beste Feed­back über­haupt ist, wenn mir Hör­er sagen, dass sie nicht glauben, dass ich Müs­lüm spiele. Meine Angst war, dass ich den Charak­ter falsch umset­zen würde. Ich wollte ihn so authen­tisch wie möglich machen.» Der türkische Anti­held spricht kein akzent­freies Deutsch und ist eher schlecht inte­gri­ert. Für den eigen­willi­gen Charak­ter hat er sich in seinem Umfeld umgeschaut. Einiges kon­nte er von seinem Vater abkupfern: «Ich stelle mir meinen Vater in den End­siebzigern vor, mit Frau und drei Kindern, wie er am Tele­fon fast verzweifelt ver­sucht, einen Ter­min mit dem Friseur zu vere­in­baren, was ihm nicht gelingt, weil er nicht Herr über die Sprache ist.»

Semih hat oft solche Momente der Frus­tra­tion erlebt. Auch Müs­lüm ist nicht beson­ders schlagfer­tig und deshalb oft des­ori­en­tiert. Müs­lüm ruft bei seinen Tele­fon­scherzen den Ser­vice-Desk-Mitar­beit­er ein­er Sprach­schule an, plaud­ert am Tele­fon über Sex­prak­tiken mit der Geschäfts­führerin eines Bor­dells, bewirbt sich auf eine Annonce bei der Kan­ton­spolizei, bewun­dert einen uner­press­baren Waf­fen­händler und Libanonkriegvet­er­a­nen und bietet ein­er Drogerie seine Dien­ste als Dro­genkuri­er an. Die Naiv­ität macht den Charak­ter komisch und liebenswert zugle­ich. Er ist dop­pelt benachteiligt, weil er erstens Aus­län­der ist und zweit­ens die Sprache nicht beherrscht. Der Türke kommt also eher schlecht weg. «Ich habe das Priv­i­leg, mich über mein eigenes Volk lustig machen zu kön­nen», meint Semih.

Doch Müs­lüm wäre kaum so beliebt, wenn er nicht auch etwas Liebenswertes an sich hätte. So ist er auch der Vertreter des kleinen Mannes, der sich nicht gerne bescheis­sen lässt. «Ich benutze diesen Charak­ter, um einen Über­raschungsmo­ment zu kreieren. Denn das Gegenüber erwartet bei einem solchen Akzent nicht, dass man ihm Paroli bietet.» Was oft harm­los anfängt, endet meist in der Blossstel­lung desjeni­gen, der am anderen Ende der Tele­fon­lin­ie ist. «Für uns Aus­län­der ist es ein geiles Gefühl, denn viele sagen sich, das kenne ich auch, das Gefühl, sich nicht ver­ständlich machen zu kön­nen.»

Müs­lüm: «Ich bin aggres­siv. Ich habe Kom­plexe. Adren­a­lin!»

Müs­lüm ist wed­er gegen Schweiz­er noch gegen Aus­län­der. Er macht es bei­den recht, erk­lärt Semih. «Viele Leute machen die Faust im Sack. Müs­lüm macht das nicht. Er teilt aus. Er sagt genau das, was sich viele nicht trauen zu sagen.» Diese Unver­froren­heit gibt vie­len Hör­ern eine uner­hörte Genug­tu­ung. «Müs­lüm ist eine Art Robin Hood», so Semih. «Er sagt das, was jed­er gerne ein­mal sagen würde, dazu noch in ein­er Sprache, die sehr direkt ist und belei­di­gend wirken kann. Die Absicht dahin­ter ist es nicht, jeman­den zu dis­sen. Dieses Ele­ment ist ein­fach zen­tral für den Charak­ter. Müs­lüm sagt nicht, ich bin heute nicht gut gelaunt, er sagt: Ich bin aggres­siv.» Müs­lüms Stan­dard­satz lautet: «Ich bin aggres­siv. Ich habe Kom­plexe. Adren­a­lin!» Er spricht alle unter­schied­s­los mit «Kol­lege» (sprich: «Chol­lege») an.

«Ich mag alles an ihm», sagt Semih. «Müs­lüm hat Charme und zeigt guten Willen. Er ist direkt und sagt, was er denkt. Er ist lib­er­al und tol­er­ant.» Auf die Frage, ob der Charak­ter auch etwas Neg­a­tives hat, muss Semih lange nach­denken. Schliesslich sagt er, dass man ihn bess­er nicht imi­tieren sollte, denn er lässt manch­mal die Fäuste sprechen und kon­sum­iert regelmäs­sig Alko­hol.

Müs­lüm hat namhafte Fans aus der Promiszene. So ist zum Beispiel Mar­co Wölfli, der Stam­m­goalie der Bern­er Young Boys, den Semih in einem Sketch verulkt, in Mehmet umtauft und zum Dro­genkuri­er von Müs­lüm macht, ganz hin­geris­sen von Müs­lüm. Sog­ar der SVP-Jung­poli­tik­er Erich Hess gehört zu jenen, die Müs­lüm angerufen hat. Auf die Frage, welche Musik Hess mag, sagt dieser, dass er gerne Ländler hört. Als Hess aber keinen Folk­lore-Schlager vorsin­gen kann, ist Müs­lüm ent­täuscht und wirft dem jun­gen Recht­saussen­poli­tik­er vor, keine Kul­tur zu haben. Es sind diese Momente, die Semih am meis­ten geniesst.

Den emo­tion­al­sten Moment aber erlebte Semih «Supre­mo» bei sein­er Abschlusssendung. «Etwa sechzig Homies reis­ten aus der ganzen Schweiz nach Bern, um bei mein­er Supreme Block Par­ty dabei zu sein. Kurz vor Sende­be­ginn kommt ein Vater in Begleitung seines blind­en Sohnes. Er spricht mich an und erzählt mir, dass sein Sohn mein grösster Fan sei. Er war auch kör­per­lich behin­dert. Ich liess ihn kurz mod­erieren. Er hat meinen Flow ziem­lich gut rüberge­bracht und sog­ar impro­visiert. Er war das High­light des Abends. Es war ein berühren­der Moment. Einen Augen­blick lang herrschte Son­nen­schein in sein­er kleinen dun­klen Welt. Das war für mich das schön­ste Feed­back über­haupt.»

Semih Yavsan­er hat bere­its an die Lim­mat dis­loziert und wird dem­nächst bei ein­er Zürcher Radio­sta­tion auf Sendung gehen, dies­mal in einem ordentlichen Hon­o­rarver­hält­nis. Auf die neuen Geschicht­en von Müs­lüm und Co. wird man wohl auch in Zürich ges­pan­nt sein.

Foto: zVg.
ensuite, Sep­tem­ber 2009

Artikel online veröffentlicht: 6. September 2018