Von Walter Rohrbach — Sollte man Freiburg mittels eines Filmgenres beschreiben, wäre es wahrscheinlich der Ritterfilm. Im mittelalterlichen Charme präsentiert sich die Altstadt, welche sich mit zahlreichen gotischen Gebäuden und Bürgerhäusern zur Saane (frz. Sarine) hin einfügt. Gassen aus Pflastersteinen kombiniert mit alten Sandsteinmauern schmücken einige Ecken der um 1157 von Herzog Berchtold IV. gegründeten Zähringerstadt. Eine geeignete Kulisse, um Sean Connery hoch zu Ross in der Rolle des König Arthur um seine Ehre kämpfen zu lassen. Passend wäre auch ein französischer Liebesfilm, beispielsweise an der Rue des Epouses in einem der charmanten, etwas heruntergekommene Cafés. Hier könnte man an die vom Regen und Wetter gezeichneten und an Charakter reichen Holzstühle die wunderschöne Marion Cotillard zur Liebes- oder Trennungsszene platzieren, mit dramatischem Höhepunkt am steilen Abhang der Funiculairestation. Ebenso ein Film der Trennung, der Einigung und des Aufstiegs wäre für Freiburg geeignet. Der Steilhang gliedert den Ort (Wiederholung!) in die Ober- und Unterstadt, welche (in früheren Zeiten) die Ober- von der Unterschicht trennte. Hier kämpfte sich ein Unterschichtsjunge namens Jo (Joseph) Siffert mit viel Charisma und einigem Motorenöl im Blut zuerst in die Oberschicht, später zu Ruhm im Motorrennsport. Ein Mythos mit Verfilmungspotential. Ebenso die Saane symbolisiert eine Trennung – in Deutsch- und Westschweiz, der sich eindrückliche, verbindende Brücken widersetzen, um der Stadt ein Gemisch aus Deutsch- und Westschweiz zu geben. So steht die Stadt im Üechtland selbst, exemplarisch für die Darstellung von verschiedenen Lebensalltagen und ‑perspektiven, welche im FIFF präsentiert werden.
Beispielsweise der Film «Pelo Malo» aus Venezuela. Die erste Einstellung täuscht, denn was weiss beginnt wird eher grau enden. Weiss und gepflegt ist einzig das Treppenhaus des Luxusapartments, welches Marta anfangs reinigt. Allerdings nicht für lange. Bereits in der ersten Szene erfolgt die Kündigung mit anschließender Odyssee der Arbeitssuche der alleinerziehenden Mutter. Junior, ihr Sohn, hat andere Probleme: jene schwarzen Locken, welche sein junges Haupt schmücken. So wunderschön sie dem Betrachter erscheinen mögen, ihm missfällt die dichte, gelockte Pracht, und Junior wünscht sich nichts sehnlicher als glatte Haare. Jene Haarform seiner Mutter, und die Vermutung liegt nahe, dass er auf diese Weise die Nähe zu ihr sucht. Denn Nähe bekommt er wenig. Seine Mutter findet keinen Zugang zu ihm und lehnt jede körperliche Nähe zu ihm ab. Dies ganz im Gegensatz zum kleinen Bruder von Junior, welcher im niedlichen und zuwendungsbedürftigen Alter viel Aufmerksamkeit von seiner Mutter bekommt. Sehr zum Missfallen von Junior, welcher ihm gegenüber eine Ablehnung aufbaut. Allerdings nicht eine frontale, diesen Fehler hat die Regisseurin Mariana Rondón nicht gemacht, sondern eher eine leichte, der Situation angepasste und verständliche Ablehnung. Dies ist aber nicht Hauptstrang und Reibungsgrundlage des 93-minütigen Spielfilms. Ebenso Juniors Haarglättungsversuche welche wiederholt zu Konflikten führen, scheinen nur als Symbol für die Trennung zwischen Mutter und Sohn zu stehen. Es wären andere Inhalte denkbar, um den Konflikt darzustellen, der entsteht, wenn konkrete Vorstellungen der Mutter mit unterschiedlichen Neigungen und Realitäten des Sohnes aufeinanderprallen. Handlungsort ist das venezolanische Grosstadtplattenbauviertel Caracas, wo abwechslungsweise die Mutter und der Sohn auf ihren Streifzügen begleitet werden. Die erschwerten Bedingungen einer alleinerziehenden und stellenlosen Mutter tragen weiter zu der Ohnmacht der Mutter bei, welche sich oft bei Junior entlädt. Gelungen ist die Darstellung und die langsame Zuspitzung des Konfliktes der beiden Protagonisten. Ebenso die Einstellungen der Plattenbauten, welche die physische und strukturelle Enge der Kleinfamilie untermauert, fügen sich stimmig in die Handlung ein. Das positive Echo und die Hauptpreise von Filmfestival von Montreal bis Thessaloniki sind verdient für einen Film aus einem Land, aus dem sonst nur wenig Cineastisches zu sehen ist.
Auch der Einstieg des Dokumentarfilmes «Un été avec Anton» führt in die Irre. Anton tanzt. Mit grosser Leichtigkeit bewegen sich seine Arme rhythmisch zur elektronischen Musik. Im Hintergrund eine Tapete, deren Farbstärke und Muster an längst vergangene Zeiten erinnern. Doch geschildert wird die Gegenwart. Eine, welche nicht in unsere westliche, moderne Schablone passt. Handlungsort ist ein Provinznest irgendwo im Süden von Moskau. Wir blicken ins Innere eines Landes, welches uns seit der Krimkrise noch etwas fremder geworden ist. Man beschäftigt sich plötzlich mit der russischen Perspektive, um die Handlungen Putins zu erklären. Ansonsten sind Russland als Land und seine Bevölkerung ziemlich uninteressant und unerwähnt in unseren Breitengraden. Der Film, von Jasna Krajinovic bietet einen interessanten und erschreckenden Einblick, indem sie den anfangs noch tanzenden 12-jährigen Anton einen Sommer lang begleitet. Anton wohnt bei seiner Grossmutter (Babouschka), einem alten, faltigen Mütterchen, welches aber eine gute und innige Beziehung zu ihm zu haben scheint. Antons Eltern sind Alkoholiker, und seine Mutter kommt ihn nur ab und zu besuchen. Schon bald aber sieht man Anton beim Packen einer grossen Tasche und bei der Verabschiedung von Babouschka, welche in mütterlicher Weise, in ihren wie üblich farbenfrohen Kleidern, deren Muster eher an Tapeten oder Vorhänge erinnern, zum Abschied weint und winkt. Die Sommerferien sind angebrochen, und Anton macht sich auf in ein Militärsommercamp. Was folgt, sind einprägsame Bilder, die an vergangene Zeiten erinnern. Kahlgeschorene Burschengesichter in Kleidung mit grün-braunem Tarnmuster werden zur militärischen Disziplin erzogen. Die Tage sind strukturiert durch Märsche, Kampf- und Gefechtsübungen. Erschreckend sind die propagandistischen Unterrichtsstunden, in welchen der Lagerkommandant die Welt in Gut und Böse einteilt: Derzeit scheinen das die terroristischen Muslime zu sein, welche Russland zerstören wollen. Besorgniserregend ist bei der Betrachtung solcher Szenen die Statistik: Ungefähr 60% der Jungen in Russland besuchen Militärcamps dieser Art, welche sie auf das harte Leben vorbereiten sollen. So argumentiert auch Anton selbst: Er sieht sich als Junge, der es schwer gehabt hat und durch Drill und diszipliniertes Training ein starker Soldat werden will, der Russland beschützen soll. Jasna Krajinovic unterlässt es, ihre Aufnahmen zu kommentieren. Einerseits verstärkt sie damit deren Effekt, damit man sich besser auf die Ereignisse konzentrieren kann.
Interessant wäre es aber auch gewesen, die Perspektiven von Anton aufzuzeigen, und seine Lebensbedingungen in der russischen Gesellschaft einzuordnen. Aus diesem Grund sind weitere Filme über den Lebensalltag der Russinnen und Russen wünschenswert.
Die erste Szene des indischen Filmes «Siddharth» spielt am Bahnhof von Delhi, wo Mahendra seinen 12-jährigen Jungen Siddharth in den Norden des Landes zur Arbeit in die Fabrik schickt. In Indien ist die Kinderarbeit zwar verboten, trotzdem hat Mahendra sich entschlossen, den Jungen für vier Wochen zur Aufbesserung des Familienbudgets in eine andere Stadt zu senden. Ein folgenschwerer Entscheid, wie sich bald erweisen wird, denn Siddharth trifft nicht wie vereinbart zum Festival der Lichter (Diwali) zu Hause ein. Zuerst noch sorglos an eine Verspätung glaubend, kann Mahendra mit einigen Schwierigkeiten den Arbeitgeber von Siddharth ausfindig machen und telefonisch erreichen. Dieser erzählt, dass Siddharth bereits vor zwei Wochen weggelaufen sei. Diese Version kann Mahendra nicht glauben, ebensowenig die Polizei, an welche sich der zunehmend verzweifelte Vater nach einiger Überwindung wendet. Diese geht eher von einer Kindesentführung aus. Für die Suche bittet die Polizei den Vater um ein Bild und die Angabe des Alters des verschollenen Jungen. Ein Bild allerdings existiert nicht. Ebenso das exakte Alter kann Mahendra nicht auf Anhieb angeben. Dies lässt tief in die indische Gesellschaft blicken. In einen Lebensalltag bestimmt von Armut, Hunger und dem täglichen Kampf, irgendwie mit der Familie über die Runden zu kommen. Gelebt, gegessen und geschlafen wird in einem Raum mit Betonboden, der aufgrund seiner Kargheit und der fehlenden Möbel am besten mit einer Garage zu beschreiben ist. Mahendra verdient das Geld für die vierköpfige Familie als Reißverschlussreparateur (chain-wallah) und durchstreift täglich die Metropole von Delhi, wo er mit seinem Megaphon seine Dienste anpreist. Reich wird man damit nicht. Aus diesem Grund fehlt ihm auch das Geld für die Zugfahrt, um nach dem verschollen Sohn zu suchen. So verstreicht wertvolle Zeit, bis der mittlerweile sehr verzweifelte Vater das Geld für die Zugfahrt aufbringen kann. Damit aber nicht genug: die Odyssee von Mahendra ist damit nicht abgeschlossen, und das Drama nimmt seinen Lauf. Es ist eine exotische Welt, mit welcher der Zuschauer konfrontiert wird. Der Film von Richie Metha ist Gesellschaftskritik und ‑analyse zugleich, die mittels der tragischen Handlung zum Ausdruck gebracht wird. Intelligent erzählt er die Geschichte der Machtlosigkeit, der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins aufgrund beschränkter Ressourcen. Ein Film, der berührt und betroffen macht und aufzeigt, wie die Handlungsmöglichkeiten mit der Armut und der Stellung in der Gesellschaft verknüpft sind. Eine cineastische Tragödie weit ab der bekannten Bollywood-Klischefilme, der eintaucht in existierende Realitäten. Von der Machart her erinnert er stark an den ebenfalls aus Indien stammenden Film «The Lunchbox». Allerdings kann «Siddharth» sicher nicht als Liebesfilm bezeichnet werden.
Filme:
- Pelo Malo, Venezuela, Mariana Rondón
- Un été avec Anton, Belgien, Jasna Krajinovic
- Siddharth, Kanada/Indien, Richie Metha
Foto: zVg.
ensuite, Mai 2014