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Drei Tanzstädte im Wandel

Von Kristi­na Sol­dati — Gegen­wär­tig erleben drei Schweiz­er Städte einen Wan­del in ihrer Tanzs­parte: Lau­sanne, Luzern und Bern. ensuite — kul­tur­magazin betra­chtet sie näher.

I. Wan­del ohne Wende? Der Stadt Lau­sanne stand ein erzwun­gener Wan­del bevor, als im Novem­ber 2007 der ruhm­re­iche Meis­ter Béjart ver­schied. Der Wan­del war abse­hbar, auch für den Betrof­fe­nen. So hat­te Béjart für einen Wan­del ohne Wende vorge­sorgt. Eine Stiftung sollte über seine Auf­führungsrechte wachen. Die Com­panie Béjart Bal­let Lau­sanne, kurz BBL, sollte das bevorzugte Instru­ment zum Erhalt seines kün­st­lerischen Erbes bleiben. Damit das stim­mig abläuft, ist der Präsi­dent des einen der kün­st­lerische Direk­tor des anderen. Die Kon­ti­nu­ität währt auch finanziell: Drei Jahre dauerte noch der Finanzierungsver­trag zwis­chen Stadt und Com­panie nach Béjarts Tod. Nun ist er gar ver­längert. Die kün­st­lerische Kon­ti­nu­ität (wohl ein Wider­spruch in sich) war auch vor­bere­it­et: Béjart sicherte sich den langjähri­gen Solis­ten Gil Roman erst als Assis­ten­ten, dann als Vize-Direk­tor und schliesslich als nach­fol­gen­den kün­st­lerischen Direk­tor. Ein Jahr vor dem Tod ver­fasste Béjart einen inni­gen Empfehlungs­brief, der nun auf der Home­page der BBL unter Gil Roman prangt: «Dreimal musste
ich ihn vor die Tür set­zen. Dreimal inner­halb acht Jahren, und jedes Mal habe ich ihn innert weniger Wochen wieder hereinge­holt. Langsam ver­stand ich […], wie nah er mir war. Nein… er war ich». Wenn die Solistin Elis­a­beth Ros am Vor­abend der Pre­miere des Stücks «Tour du monde en 80 min­utes» dem Fernsehkanal TSR kundgab, Gil wäre ähn­lich fordernd wie sein Meis­ter, ja noch anspruchsvoller, so traf sie wohl einen wun­den Punkt. Drei Monate darauf wer­den drei Tänz­er ihren Hut nehmen und Gil wegen psy­chis­ch­er Gewalt und moralis­ch­er Nöti­gung verk­la­gen. Eine Unter­suchung wird ein­geleit­et, und die Gen­fer Presse verkün­det im Novem­ber: «Gil Roman blanchi!», reinge­waschen. Selb­st «Le Monde» berichtete. Eine ähn­liche Härte im Umgang hät­ten die Tänz­er zuvor einem Béjart vergeben, erk­lärte dazu Béjarts Stiftungsrat gegenüber «Le Temps». Der Kul­turredak­teur von «Le Temps», übri­gens mit dem Tanzkri­tik­er-Preis aus­geze­ich­net, meinte wie zur Rep­lik: Die Pre­miere im Dezem­ber werde der Test sein. Nicht, dass es nach dem Tod Béjarts keine Pre­miere gegeben hätte. Gle­ich dreis­sig Tage nach dem Tod wurde «Tour du monde en 80 min­utes» präsen­tiert. Gil, schon immer die rechte Hand des Meis­ters, kon­nte das halbfer­tige Stück so ver­voll­ständi­gen, dass nie­mand merk­te, wo die Hand Béjarts fehlte. Eine Schweiz­er Kri­tik­erin nan­nte das Stück «Restev­er­w­er­tung». Das war konzeptuell vom Meis­ter so angelegt. Die High­lights seines Oeu­vres hat­te er selb­st bere­its 2005 in «L’amour, la dance» rezyk­liert. Was also dem BBL fehlt, ist eine Pre­miere, die Neues zeigt und von Öff­nung zeugt. Denn was die weit­ere Entwick­lung des BBL ange­ht, da sind sich alle einig: Ein Mau­soleum soll das BBL nicht wer­den. Schauen wir uns also den Test­fall an.

Der Test­fall Im Dezem­ber kün­dete eine gross angelegte Wer­bekam­pagne von «3 Chore­o­graphen und 3 Gästen». Zwei Gäste davon sind die vielle­icht berühmtesten über­haupt: Ana Lagu­na, Solistin und Part­ner­in des weg­weisenden Mats Ek, und Mikhail Baryschnikov. Doch die Gastchore­ografen und Stars mis­cht­en sich nicht mit der Com­panie. Säu­ber­lich geschieden zeigten sie nur solis­tis­chen Paar­tanz. So aber prof­i­tiert das BBL keine Elle. Doch vielle­icht sein Ruf? Lei­der auch der nicht. Das Ereig­nis scheint schlicht tot­geschwiegen. Der geladene Repräsen­tant des deutschen Tanznet­zes hat nichts zu sagen, nicht die Fachzeitschrift Bal­lett-Tanz, und kaum die heimis­che Presse.

Was ist passiert an den schon seit langem ausverkauften zwei Aben­den? Kein Skan­dal. Der Applaus bestätigte, dass das Pub­likum dur­chaus auf seine Kosten kam. Doch dessen bedi­en­ter Geschmack ist der eigentliche Skan­dal. Betra­cht­en wir Gil Romans neues Stück «Aria».

Das rote Cock­tailk­lei­d­chen um die Ohren torkelt Julio Arozare­na liebe­strunk­en auf die Bühne. Er ist buch­stäblich der Dame seines Herzens und ihrem Duft erlegen. Er lässt sich zu Boden gleit­en, schleppt sich auf allen Vieren über den roten Stoff, um sich sinnlich darob zu erge­hen. In «Aria» wird Erotik ver­han­delt, aber vor allem das Pub­likum ver­führt. Die Män­ner tanzen vorzugsweise mit nack­ter Brust, die Frauen stak­sen lang­beinig daher und set­zen Akzente mit ihren Hüften. Das kön­nte ja ein sinnlich angenehmer Abend wer­den, doch Gil möchte Kun­st präsen­tieren. Er hat sich dazu manche Kun­st­griffe vom Meis­ter angeeignet. Effek­tvoll hän­gen gle­ich zu Beginn drei rot­lack­ierte Schaukeln mit drei beza­ubern­den Damen. Ihre Beine sind keck übere­inan­dergeschla­gen. Die Füss­chen sind ange­spitzt und kein Men­sch erwartet, dass daraus Bewe­gung entste­ht. Dafür bewegt uns sogle­ich die Gold­berg-Vari­a­tion in Glenn Goulds Ein­spielung (Play­back zu den Tas­ten-Scheinübun­gen eines Tänz­ers in Pianis­ten­pose). Wenn die Damen, «Les Ari­ane» (sic!), laut Pro­grammheft von der Schaukel gleit­en, sich stelzend nebeneinan­der posi­tion­ieren und syn­chron die Rhyth­men Bachs zur metrischen Unter­lage ihrer Neok­las­sik-Vari­a­tio­nen reduzieren, warten wir nur darauf, von der passenderen Musik der «Nine Inch Nails» erlöst zu wer­den. Von den all­ge­gen­wär­ti­gen Hüf­takzen­ten abge­se­hen ist chore­ografisch keine Hand­schrift abzule­sen, schon gar keine ein­heitliche. Bis auf wenige Aus­nah­men in natür­lichem Pastell und organ­isch-ursprünglichem Tanz dient das Ensem­ble der Glanzäs­thetik, darf um die Solis­ten kreisen und ihren Schein­wer­fer­kegel säu­men. Am Schluss (lei­der wieder auf Bach), liegt es am Boden darnieder. Bedeut­sam senkt sich dann eine dicke rote Kordel, deren aus­fransende Enden jed­er ergreift: Das Béjart-Bal­let zieht am sel­ben Strang.

Die Kri­tik des «Le Temps» schwärmt aber von ein­er anderen Geste. Da sie «Aria» gar nicht erwäh­nt, stammt sie aus dem einzig gelun­genen Kon­trast­pro­gramm von Mats Ek (davon mehr in ensuite Nr. 76; Alter im Tanz). Auch dort schaut sie nur als «Geheim­nis» unter dem Tep­pich her­vor: «Die Geste der Revolte und des Unvorherse­hbaren.» Wessen Revolte ist mit diesen Schluss­worten der Kri­tik wohl geheimnisvoll gemeint?

II. Wan­del zur Wand­lungs­fähigkeit Luzern hat ab kom­mender Spielzeit eine neue Bal­lettdi­rek­torin. Der Schweiz­er Dominique Men­tha, Inten­dant seit 2004, hat­te wohl mit der Wahl des ambi­tion­ierten Profis Kath­leen McNur­ney, derzeit Bal­lettmeis­terin in Basel, eine glück­liche Hand. Das hat er nötig, denn Luzern baut aus und möchte Qual­ität steigern. Ein gross­er mod­ulier­bar­er Saal soll entste­hen, den das Lucerne Fes­ti­val und das The­ater gle­icher­massen nutzen und vor allem füllen wollen. Mod­ulier­bar ist dabei die räum­liche Anord­nung der Bühne zum Zuschauer. Die Mod­ule über­winden die starre Enge der Guck­kas­ten­form. Mit der kün­fti­gen Direk­torin sprach ensuite — kul­tur­magazin.

ensuite — kul­tur­magazin: Kath­leen McNur­ney, warum ist die Wahl auf Sie gefall­en?

McNur­ney: Ich weiss es nicht wirk­lich. Wohl wegen meines Tanzhin­ter­grun­des. Ich tanzte unter anderem bei Spo­er­li, assistierte Richard Wher­lock erst in Luzern, dann in Basel, dazwis­chen war ich Bal­lettmeis­terin und Assis­tentin bei Spo­er­li.

Was ist Ihre Stärke?

Ich bin, das war von Anfang an klar, keine Chore­ografin. Ich arbeit­ete mit den ver­schieden­sten Chore­ografen zusam­men, von zeit­genös­sis­chen bis hin zu einem Hans van Manen. Das ist ein sehr weites Spek­trum. «My vision is quite open.» Meine stilis­tis­che Schu­lung der Tänz­er eben­falls. Das mag wohl ein Grund sein.

Dann nenne ich Ihre drei Vorzüge: Sie ste­hen erstens bei der Auswahl der Chore­ografen für Qual­ität. Dann sind Sie die bewährte rechte Hand für jeden Gastchore­ografen und kön­nen drit­tens die Stücke auf hohem Niveau im Reper­toir hal­ten.

Das stimmt. Ich habe mir dabei eine Pri­or­ität geset­zt. Das erste Jahr werde ich die Com­panie auf­bauen. Ich werde ihr zu ein­er unver­wech­sel­baren Hand­schrift ver­helfen. Ich bin ein lei­den­schaftlich­er Päd­a­goge, ver­mit­tle und fördere gern.

Und was ist diese «Hand­schrift»?

Das ist eine gute Frage! Ich trainiere das Ensem­ble im klas­sis­chen Bal­lett. Aber natür­lich nicht stilis­tisch wie Peters­burg oder das Roy­al Bal­lett. Viele europäis­che Haupt­städte bew­erk­stel­li­gen eine neu­trale Aus­bil­dung, die Wege zur Inter­pre­ta­tion zeit­genös­sis­chen Tanzes offen­hält. Auch bei mir sollen die Tänz­er gestreck­te Arabesquen und Füsse in jed­er Lage hin­bekom­men. Und den­noch: Die Tech­nik muss sie gle­ichzeit­ig für zeit­genös­sisch aus­geprägte Bodenar­beit befähi­gen.

Die Leitung des Luzern­er The­aters set­zt wohl auch auf Ihre guten Beziehun­gen. Wer­den die Namhaften unter Ihren Bekan­nten den Weg nach Luzern find­en?

(lacht): Ich frage sie zuerst ein­mal gar nicht. Ein Jahr wird gründlich aufge­baut. Dann aber — der Gedanke reizt mich schon jet­zt. Es ist sehr ver­lock­end, die tal­en­tierten Leute, mit denen ich zu tun hat­te, anrufen zu dür­fen und zu sagen: «Voilà, hier gibt es eine wun­der­bare Gele­gen­heit: Möcht­est du ein Stück für uns schaf­fen?» Wie die erste Spielzeit aussieht, ste­ht noch nicht fest, ich muss erst die Com­panie zusam­men­stellen. Die ersten Stücke wer­den für die Tänz­er mass­geschnei­dert, «auf ihren Leib zugeschnit­ten» sein. Später kann ich fer­tige Stücke wie von der Stange abhän­gen und kaufen. Das kann dann ein Marke­nar­tikel sein, selb­st Haute Cou­ture eines Jiri Kylian oder dem jüngst in Basel gelade­nen Jor­ma Elo.

Haben Sie Luzerns Schick­sal die Jahre über ver­fol­gt?

Oh ja. Nach der span­nen­den Zeit von 1996–99 kam ein Inten­dant, der die Tanzs­parte kurz­er­hand auflöste. Über das Ergeb­nis bin ich aber zwiespältiger Mei­n­ung: Jede Auflö­sung ist bedauer­lich. Ander­er­seits wurde es auch span­nend. Natür­lich genoss jed­er Zuschauer Gast­trup­pen der Superla­tive wie die Mer­ce Cun­ning­ham Com­pa­ny. Doch das Jahr hin­durch gab es keine Kon­ti­nu­ität. Die Stadt und ihre Bewohn­er kon­nten nicht ein Ver­hält­nis zur Tanzs­parte auf­bauen, ihre Entwick­lung ver­fol­gen. Ich war sehr froh, dass der neue Inten­dant, Dominique Men­tha, 2004 wieder ein Ensem­ble auf­baute. Ein Gastthe­ater kann zwar inter­es­sant sein, ich bin aber nicht sich­er, ob Luzern dafür der richtige Platz ist.

Ist die Entschei­dung für ein Ensem­ble eine für die Entwick­lung ein­er Tra­di­tion, eines Pro­fils, das man mit dem Namen Luzern verbinden kann, über Gren­zen hin­weg?

Wichtiger ist die Moti­va­tion vor Ort. Mit dem eige­nen Ensem­ble kann sich eine Stadt iden­ti­fizieren. Die Tänz­er gehen tagein tagaus durch dieselbe Stadt wie ihr Pub­likum und kreuzen ihre Wege. Solche Kon­tak­te sind für bei­de Seit­en span­nend. Wenn diesel­ben Tänz­er vielfältig einge­set­zt wer­den und der Zuschauer ihn mal poet­isch, ein ander­mal richtig ath­letisch erleben kann, dann wird es zu über­raschen­den Aus­rufen auf der Strasse kom­men: «Deine let­zte Rolle war über­wälti­gend!» Der Zuschauer wird die Viel­seit­igkeit ver­fol­gen wollen.

Das wäre ja schon Teil ein­er ästhetis­chen Schu­lung des Pub­likums. Sind Sie auf diesem Gebi­et auch gefordert?

Ja, das entspricht ganz meinem Wun­sch. Es wird vor den Vor­führun­gen Gespräche geben. Wir wollen mit offe­nen Proben für das Pub­likum zugänglich sein und eine enge Beziehung knüpfen. Der Inten­dant führt uns den Punkt noch aus. Die Jugend soll zum Mit­machen angeleit­et wer­den. In Zusam­me­nar­beit mit den Schulen ler­nen sie dabei neben Rollen auch Mar­ket­ing und The­aterkri­tik… Sein The­ater soll ver­mehrt ein «Ent­deck­ungsthe­ater» wer­den. Unbekan­nte junge Chore­ografen­tal­ente sollen aufge­spürt wer­den. Pro­fil­fähigkeit hat­te die Tanzs­parte mit dem Tanzthe­ater der Ver­e­na Weiss die let­zten vier Jahre schon bewiesen. Nun gibts den Wan­del zum per­ma­nen­ten Wech­sel: Wand­lungs­fähigkeit als Konzept.

III. Wan­del wörtlich Seit dem Direk­tion­swech­sel let­zte Spielzeit hat sich das Bern­er The­ater mit sein­er Bal­lettchefin pro­fil­iert: Cathy Marston hat eine Lei­den­schaft für lit­er­arische The­men. In welch­er Form sie über die Bühne gehen, ist dann aber unter­schiedlich. Die erste Bern­er Pre­miere war die aus­buch­sta­bierte Geschichte der Zaren­fam­i­lie. Die präzis geführte Nar­ra­tion, die jede Geste festschrieb, befremdete viele. Das roy­al­is­tis­che Dekor und die üppi­gen Kostüme verdeck­ten, was die Chore­ografie an Moder­nität bergen mochte. In ihrem zweit­en Bern­er Stück suchte die Chefin etwas auf den Geschmack des Pub­likums einzuge­hen. «Through your Eyes» nahm die lit­er­arische Vor­lage, den Briefwech­sel der Dichter Tom Hugh­es und Sylvia Plath, nicht mehr wörtlich. Das Dichter­paar wurde in mehrere Paare ges­pal­ten, damit sie biografis­chen Zeitab­schnit­ten entsprachen. Der Entschluss, sie dann syn­chron zu präsen­tieren, ver­wirrte dann doch. Zudem sie für die einzel­nen Sta­di­en des Dichter­paars nicht deut­lich genug eine je dis­tink­te Bewe­gungssprache entwick­elte. Am aus­ge­sprochen durch­mis­cht­en vierteili­gen Bal­let­tabend ging die lit­er­arische Finesse unter. Es scheint, die for­mal exper­i­men­tier­lustige Jugend der auf­streben­den Gastchore­ografen stahl der Chefin die Show. Überzeu­gend dage­gen war ein abend­fül­len­des Stück von Cathy Marston, das schon auf der kleinen Bühne des Lon­don­er Roy­al Opera House geis­terte: «Die Gespen­ster». Es war, kom­pliziert genug, auf die Abfolge der Ereignisse des Dra­mas von Ibsen reduziert. Das Stück war aber vor allem stilis­tisch span­nend. Das Büh­nen­bild bot den Innen­raum verz­er­rt, wie die kranken See­len, wenn sie die glat­ten Ober­flächen des gewahrten Scheins durch­brechen. Die Chore­ografin schuf ein expres­sives Tanzstück, das der psy­chol­o­gis­chen Tücke der Ibsen-Fig­uren gewach­sen war. Obschon das reich­liche Schritt­ma­te­r­i­al nicht immer der Rel­e­vanz diente.

Es ste­ht nun die zweite Kost­probe aus den Werken made in Lon­don an (dessen englis­chen Titel wir gle­ich mit­ge­niessen dür­fen): «before the tem­pest… after the storm». Hier wird Shake­spear­es «Der Sturm» mit W. H. Audens fort­führen­der Dich­tung «The Sea and the Mir­ror» gekreuzt. Kein Wun­der, wirbt diesen Monat das deutsche Bal­lett-Tanz-Jour­nal mit «Kluge Cathy».

Botel­hos neues Stück Entspan­nt zurück­lehnen kann sich der Zuschauer dann in der zweit­en Hälfte des neuen Bal­let­tabends. Der Schweiz­er Tanz- und Chore­ografiepreisträger Guil­herme Botel­ho möchte den Betra­chter in einen kon­tem­pla­tiv­en Sog ziehen. Das gelingt ihm auch, wenn man, wie bei allen trance-
ähn­lichen Zustän­den, gewil­lt ist, sich darauf einzu­lassen. Die ersten zwanzig Minuten ziehen Vier­bein­er über die Bühne. Sie krabbeln, robben und rollen, dass man oft nicht weiss, wo bei ihnen oben und unten, vorne und hin­ten ist. Wenn eine Horde auf ihren lang­gliedri­gen Vieren sich rotierend fort­be­wegt, mag das dann auch egal sein. Nur eines ist klar: Wohin es geht. Die eine Seit­en­gasse saugt das unzäh­lige Geziefer auf, ohne ihm damit ein Ende zu bere­it­en. Es fol­gen ihm weit­ere Exem­plare auf dem Fuss. Die Vielfalt fasziniert. Allmäh­lich, wie das Licht von Däm­merung zum Tages­licht wech­selt, so unmerk­lich ent­fal­tet sich die Gat­tung zum homo erec­tus. Jede Spezies hat eines gemein­sam: Das Ziel. Kein­er weiss, ob jemand weiss, was das Ziel eigentlich ist. Ist es ein ange­boren­er Drang, selb­st­ge­set­zt oder nur ein sozialer Druck? Es gibt Momente der Umkehr, Momente des Kon­tak­ts. Doch Vorankom­men ist alles. Daher auch der anschauliche Titel: «¬». Die kos­misch-sug­ges­tive Musik schwillt an. Der Rhyth­mus zieht an. Und schliesslich drängt ein uner­bit­tlich­es Pulsieren wie aus unserem eige­nen treiben­den All­t­ag.

«Ja, es ist offen, was der Sog tat­säch­lich ist. Es kann auch schlicht das Schick­sal sein, wie Shake-speare es in seinen Dra­men behan­delt», meint Botel­ho. Ist der Sog etwas Objek­tives oder nur sub­jek­tiv­er, gar kollek­tiv­er Ein­druck, — der, fast unheim­lich, auch uns befällt? Gle­ichzeit­ig wer­den wir uns als Zuschauer gewahr, wie wir nur Auss­chnitte aus dem Lebens­fluss dieser Wesen mit­bekom­men. Solche frag­men­tierten und vorüber­huschen­den Ein­drücke sind uns aus dem All­t­ag ver­traut. Und sie häufen sich, seit die zunehmende Geschwindigkeit uns zunehmend mobil macht. Hier wach­sen die Ein­drucks­fet­zen zu einem Strom zusam­men. Botel­ho ver­rät ensuite — kul­tur­magazin schliesslich, wie er die Tänz­er aus ihrer ästhetis­chen Reserve lock­te: «Ich sagte den Tänz­ern sofort zu Beginn: ‹Ich möchte nicht, dass ihr denkt, ihr sollt tanzen. Lasst uns ein plas­tis­ches Bild kreieren, eine Instal­la­tion!›» Nun, das wird die bewegteste Instal­la­tion sein, die Sie je gese­hen haben.

Bild: «Cry Love» in Luzern / Foto: Toni Suter
ensuite, Feb­ru­ar 2009

Artikel online veröffentlicht: 31. Juli 2018