Von Jarom Radzik — Warum Kunst ein Gegenüber braucht: Kunst kann nicht mehr konstruiert, sondern nur noch gelebt werden. Es gibt heute keine Legitimation in der Kunst, neben den neuen Technologien, wie Computer und Internet, noch Raum und Zeit zu konstruieren. In der Sekundenschnelle, in der man sich heute in eine virtuelle Welt begeben kann, kann ein Künstler nicht einmal eine Leinwand bespannen. Kunst hat keine Legitimation mehr, Vorstellungen in einem konstruierten Raum- und Zeitverhältnis zu schaffen. Kunst muss heute Raum und Zeit verkörpern. Kunst ist also dann legitim, wenn sie nicht etwas Äusseres schafft, sondern Inneres abzubilden vermag. Dann wird die Kunst unmittelbar und gegenwärtig. Nur so kann dem Menschen der heutigen Zeit ein Medium geschaffen werden, das den Anforderungen an ein zeitgemässes Leben entspricht. Nebst all den künstlichen Welten, in denen der Mensch lebt, sucht er wieder das Unmittelbare, das Menschliche. Er sehnt sich nach Menschlichkeit.
Der Künstler gewinnt in seinem Handeln also eine neue Bedeutung. Damit ist nicht gemeint, dass er als überzeichnete Karikatur in der Unterhaltungsspalte der Zeitungen mit seinem Lebenswandel in den Vordergrund tritt. Nein! Der Künstler begibt sich als lebender Schaffer mitten ins Werk. Er lebt seine Kunst. Wesentlich ist dabei die Kraft, mit der sich der Künstler mit seinem Handeln in der Kunst verbindet. Es geht um den Menschen im Künstler! Die Bedeutung, was das Menschsein denn wirklich ist, wird dabei manchmal ausser Acht gelassen. Mensch sein bedeutet nämlich Entwicklung. Leben bedeutet Entwicklung. Fehlt die Entwicklung, verliert ein Mensch über kurz oder lang die eigene Identität. Bringt eine Person Anteile ihrer selbst nicht mehr in eine Geschichte, verliert sie sich, spaltet Teile von sich ab – Schizophrenie. Genau dies geschieht in der Kunst. Gegenwartskunst wird heute als ein Hüpfen von Idee zu Idee gelebt, ungebändigt und unkontrolliert. Dabei kann keine Kunstentwicklung mehr stattfinden. Denn Entwicklung ist am Ende immer nur ein Schritt von der Vergangenheit in die Gegenwart oder von der Gegenwart in die Zukunft. Immer aber nur ein Schritt. Die Kunstwelt leidet also kurz gesagt an Schizophrenie. Denn da sie keine Lebensgeschichte, Entwicklung ihrer selbst, mehr erzählen kann, hat sie ihre Identität verloren. Sie gibt sich auf und am Ende verlässt die Kunstwelt gezwungenermassen ihre eigene Disziplin.
Warum Entwicklung nicht mehr von Interesse ist, sondern ein Hüpfen von «Neuheit» zu «Neuheit» angestrebt wird, liegt daran, dass die Kunstwelt glaubt, dass sie keine Künstler braucht – also keine Personen, die sich als Menschen mit ihrem inneren Konstrukt in der Bearbeitung von Materie ausdrücken. Die Handlung wird unterschätzt, ja gering geschätzt. Beschneidet sich Kunst ihrer Handlungen, so hat dies eine Auswirkung auf die Idee. Denn Idee und Tat stehen stets in einem Wechselspiel. Wird die Handlung gering geschätzt, so wird ganz am Ende auch die Idee gering geschätzt, denn wenn diese beiden Komponenten Idee und Tat Antagonisten der Kunst sind, so ist dies eine logische Schlussfolgerung. Am Ende dieses Wirkens steht die Auflösung. Denn die Spannkraft wurde selbst aufgelöst. Das sieht man darin, dass nicht wenige Werke heutiger Künstler weder tiefsinnig noch philosophisch sind. Auch wenn die Kunstwelt immer noch mit sogenannten «Neuheiten» beschäftigt ist, so hat der Puls der Kunst bereits geschlagen und eine neue Ära eingeläutet. Ungeachtet des vorherrschenden Diktats der Idee entstehen Kunstwerke als Ergebnis des Wechselspiels zwischen Idee und Tat. Erneut erinnern sich Kunstschaffende an die Geschichte der Kunst. Denn Kunst muss nicht neu sein, sondern lebendig. Das ist aber nur im Wechselspiel zwischen Idee und Tat möglich. Daher ist lebendige Kunst stets die Manifestation des Wechselspiels und jedes Kunstwerk, das in diesem Geiste entsteht, treibt die Entwicklung der Kunst voran.
Kunst ist Geschichte. Und sie ist mehr als der Spiegel der Menschheitsgeschichte, oft geht sie ihr sogar etwas voraus. Deswegen braucht sie auch die Nähe zu den Menschen, beobachtet sie und ist sich ihrer eigenen Rolle bewusst. Ohne dieses Bewusstsein kann sie ihre Aufgabe nicht erfüllen. Hingegen wird sie zur Verführerin. Sie folgt den Menschen in ihre Abgründe und zelebriert sie. Ein Problem, ist doch die Kunst ein machtvolles Instrument, dem Menschen zu zeigen, was er sein könnte. Zeigt sie statt dem Soll das Gegenteil, erschüttert sie die Menschen, ohne ihnen die Möglichkeit zur Besserung zu geben – trostlos und traurig. Das bedingt allerdings auch, dass Kunstschaffende und Gesellschaft in stetigem Diskurs stehen. Diskurs? Gegenwärtig wohl eher ein Wunschdenken. Ratlosigkeit wäre der bessere Ausdruck.
Es braucht den Diskurs. Reicht es also nicht, dass sich Kunstschaffende selbst suchen? Nun, natürlich braucht es diese Suche. Doch ziehen sich diese Kreise nur um das Eigene, ergeht es dem Suchenden wie Narziss, der stirbt, weil er letztlich erkennen muss, dass er sich selbst gefunden hat, obwohl er eigentlich ein Gegenüber gebraucht hätte. Narziss stirbt ob der Erkenntnis, dass er im Spiegelbild sich selbst gefunden hat und eigentlich nur sich selbst liebt. So geht es auch der Gegenwartskunst. Betrachtet sie noch länger ihr eigenes Spiegelbild, verhungert sie an ihrer eigenen Überheblichkeit. Leben liegt im Gegenüber. Darum ist es so enorm wichtig, dass sich die Kunst mit ihrem Gegenüber, dem Menschen, auseinandersetzt. Und zwar nicht als reiner Beobachter oder gar Kritiker, sondern als echter Dialogpartner.
Sehen wir doch einmal an, was ein Dialog bringt: Will sich ein Mensch mit einem anderen verstehen, so muss er sich dem anderen verständlich machen. Es wird eine gemeinsame Sprache gesucht, die der Gesprächspartner versteht. Wie kann man sonst von einem Dialog sprechen? Wir wollen kein Babel, in dem alle miteinander reden, ohne auch nur ein Wort voneinander zu verstehen. Das grosse Vorhaben, einen Turm bis in den Himmel zu bauen, musste laut der Legende aufgegeben werden, weil man sich nicht mehr verstand. Ohne Verständigung ist also kein Aufbau möglich, vielmehr herrschen Chaos und Verwirrung vor. Bemerkenswerterweise war der Zustand der Sprachverwirrung nicht von Dauer, sondern nur ein Übergang. Die Legende beschreibt nämlich, dass diejenigen, welche die gleiche Sprache redeten, sich zu Gruppen zusammenfanden und die anderen verliessen. Wer den anderen nicht versteht, hat auch keinen Nutzen vom Zusammensein. Im Gegenteil bringt es vor allem Missverständnisse mit sich.
Kann ein Künstler deshalb kein Individualist mehr sein? Nein, aber man darf nicht meinen, dass, wenn sich eine Person nicht um eine gemeinsame Ebene oder Sprache bemüht, er Individualist sei. Wenn jemand sich in Schweigen und Missverständnissen übt, ist er vielmehr ein Einsiedler. Wer nicht verstanden werden will, ist am Ende alleine. Da die Kunst dem Menschen etwas zu sagen hat, muss sie eine Sprache sprechen, die die Menschen verstehen. Die Kunst muss also dem Menschen begegnen, ohne den eigenen Charakter aufzugeben. Sie muss einladen, ohne zu vergewaltigen oder zu ignorieren. Die Kunst muss anstossen, ohne nur abzustossen. Individualität, Freiheit und Unabhängigkeit sind kein Vorwand. Im Gegenteil: Kunst kann nur dann frei sein, wenn sie aus ihrer lähmenden Angst heraustritt und dem Menschen wieder begegnet und ihn mutig in einen Dialog verwickelt.
Martin Buber sagte einmal, das Ich entsteht am Du. Und so ist es auch mit der Kunst. Am anderen wird die Kunst sich selbst. Der Künstler der Gegenwart muss deshalb bereit sein, sein Inneres im Kunstwerk nach aussen zu kehren und gleichzeitig den Dialog in sich hineintragen. Welche Erfüllung und gegenseitige Befruchtung! Der Stoff, aus dem Geschichte gemacht wird, der Boden starker Identitäten. Warum sollte sich die Kunst dem verschliessen? Warum sollte sie sich diese Chance entgehen lassen? Kein noch so intelligenter Computer und keine noch so gute Grafik können diese Fähigkeit der Kunst streitig machen. Denn in der Visualisierung des inneren Dialogs liegt ihre Einzigartigkeit.
Entsteht die Lebendigkeit aus der inneren Haltung, aus dem inneren Dialog mit dem Gegenüber, so findet diese Begegnung auch in der Auseinandersetzung mit der Materie, in der Tat, ihre Entsprechung. Die Geste, sie hat nicht ausgedient, sie ist das ureigenste Gegenüber zur Idee. Wo sonst hätte der Mensch seiner Phantasie so konkret Ausdruck verleihen können? Und diese Formung ist eine gegenseitige. So wie der Künstler die Materie formt, wird auch er durch sie geformt. Und so wie sie ihm begegnet, schafft er durch seine Leidenschaft auch immer wieder Begegnungen. Wer könnte also behaupten, dass Kunst keine Tat mehr braucht? Idee ohne Tat ist wie das Gespräch ohne ein Gegenüber. Ein Monolog, der in der Luft verhallt, flüchtig, formlos und leer.
Wir sind dankbar für alle Künstler, die ihr Leben dem Dialog mit der Materie und mit dem Menschen verschreiben. Sie haben im Verlaufe der Menschheit Werke geschaffen, die ständig mit den Menschen im Dialog stehen, selbst wenn ihre Erschaffer schon längst wieder zum Staub zurückgekehrt sind. Sie sind es, welche die Menschen inspirieren, den Dialog zur Kunst und untereinander aufrecht zu erhalten. Sie sind Zeugen davon, wie lohnend es ist, ein Gegenüber zu pflegen und sich mit ihm einzulassen.
Foto: zVg.
ensuite, Juni/Juli 2010