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Dürfen wir bitte

Von Peter J. Betts - «Dür­fen wir bitte Ihren Ausweis sehen?» Vor mir eine Polizistin und ein Polizist, bei­de wohl in den Dreis­sigern, in Uni­form, ohne Kopf­be­deck­ung, eigentlich nett ausse­hend. Sie blick­en ernst. Besorgt? Ges­pan­nt? Zur Aktion bere­it? Ich jeden­falls blicke ein­deutig erstaunt zurück. Es ist Sam­stag, so gegen zwölf Uhr, in der Spi­tal­gasse in Bern. Ein ganz nor­maler Sam­stag. Die Gasse ist nicht durch gehet­zte Einkauf­ss­charen ver­stopft. Der Fest­tags-Einkauf­s­rum­mel ist für eine kleine Weile, etwa bis einen Monat vor Ostern, verebbt. Keine Anze­ichen von Demo. Das einzige Zeichen von aggres­sivem Drän­geln kön­nte man den pausen­los präven­tiv klin­gel­nden Tramwa­gen unter­schieben. «Sorge um die Unversehrtheit der Mit­men­schen», wäre wohl die offizielle Begrün­dung bei «Bern­mo­bil». Zugegeben, schlen­dern tut prak­tisch auch nie­mand: «zielo­ri­en­tiert vor­wärts» scheint das Nor­mge­bot; wer ste­ht wühlt mehr oder weniger verzweifelt in der Einkauf­s­tasche, ste­ht in kleinen Grüp­pchen miteinan­der Reden­der oder etwas weit­er unten oder weit­er oben auf den Tram­per­rons, wartend auf den Weit­er­trans­port. Die meis­ten betreuen, ob gehend oder ste­hend, ihr Mobil­tele­fon oder i‑Phone. Nie­mand sitzt ein­fach da, nicht ein­mal ein paar Alkis oder Rand­ständi­ge auf den Trep­pen der Heiliggeistkirche; vielle­icht – aber das kann man von hier aus nicht beurteilen – sitzen auf den Trep­pen beim Waisen­haus­platz die Leute eng beieinan­der, Fast­food leis­tung­sori­en­tiert in sich hine­in­stopfend. Ich allerd­ings sitze auf einem Mäuerchen neben einem gedeck­ten Laubenkeller mit dem Schild auf einem der Deck­el: «Notaus­gang. Bitte frei­hal­ten!». Nur ein paar Zeitun­gen und leere Kar­tons sind vom Stapel neben dem näch­sten – offe­nen – Laubenkeller, dem Keller­laden «change mak­er» auf den Deck­el gefall­en, sie wür­den aus dem Notaus­gang Her­aus­fliehende kaum behin­dern; auch hier: sicht­bare Rück­sicht­nahme auf die Unversehrtheit der Mit­men­schen. Während meine Frau bei «change mak­er» im Keller­laden neben dem gedeck­ten Fluchtweg ein Geburt­stags­geschenk für einen unser­er Fre­unde aus­sucht, bin ich mit der Sicher­heit unseres Einkauf­swägelchens – zu schw­er für die steile Treppe in den Laden hin­unter – betraut und sitze auf dem Mäuerchen, wie bei Walther von der Vogel­wei­de nachzule­sen wäre: «Ich saz ûf eime steine, / 
und dahte bein mit beine; /
dar ûf satzt ich den ellen­bo­gen; /
ich hete in mîne hant ges­mo­gen /
daz kinne und ein mîn wange…» Wäre man eit­el genug, kön­nte man den Ver­gle­ich auch bei Rodin und sein­er etwa vor hun­dert­dreis­sig Jahren geschaf­fe­nen Plas­tik suchen. Ich über­re­iche der Polizistin meinen Fahrausweis. Sie nimmt ihn wort­los ent­ge­gen, tritt ein paar Schritte in die Gasse hin­aus (damit ich nicht hören werde, was sie zu sagen/fragen hat?) und begin­nt zu tele­fonieren. Natür­lich: ein paar kleine Hin­weise genü­gen, dass «alle rel­e­van­ten Dat­en» abgerufen wer­den kön­nen – das Indi­vidu­um «in a nut­shell», die Schale jed­erzeit knack­bar. Aber es dauert eine Weile. Ich blicke den Polizis­ten, der mich aus greif­bar­er Nähe betreut, fra­gend an. Für ihn ist die Sit­u­a­tion oder die Wartepause sicht­bar unbe­quem. Keine «action»? Belas­tende Stille? «Sie sahen so nach­den­klich aus. Wir ver­muteten, dies sei besorgnis­er­re­gend.» «Denken IST besorgnis­er­re­gend.» «Wie meinen Sie das?» Er tut mir schon ein biss­chen leid: «Iro­nisch». «Iro­nisch?» Ich nicke. Er nickt auch. Das Tele­fonat dauert an. Stille zwis­chen uns bei­den. «Hat­ten Sie schon ein­mal mit der Polizei zu tun?» «Seit Jahrzehn­ten nicht mehr.» «Aber auch schon.» «Nun, mir wurde vor etwa vierzig Jahren der Führerschein ent­zo­gen.» Pause. «Bin spät­nachts neben ein­er Gast­wirtschaft, in deren oberen Stock eine Exfre­undin wohnte, vor­beige­fahren und habe ihr aus Erin­nerung gehupt, eine Art akustis­ch­er Salut, und dann hat­ten mir dort lauernde Polizis­ten den Ausweis ent­zo­gen.» «Weil Sie gehupt haben?» «Nun, ich hat­te eben zuviel Alko­hol im Blut.» «Dann hat­ten Sie nichts mehr mit der Polizei zu tun?» Ich zucke mit den Schul­tern: «Ein paar­mal bei Häuserbe­set­zun­gen.» «Sie waren oder sind in der Beset­zungsszene tätig?» «Wie man es nimmt. Der Stadt­präsi­dent schick­te mich ab und zu als Ver­mit­tler zwis­chen Ihren Kol­legIn­nen und der Beset­zer­schaft hin. Vielle­icht half das, dass das Prob­lem etwas weniger spek­takulär ablief.» «Sie? Aber Sie hat­ten doch ein Alko­hol­prob­lem?» Ich zucke mit den Schul­tern: «Damals war ich Städtis­ch­er Kul­tursekretär und kan­nte viele kreative Men­schen in der Stadt recht gut.» Die Polizistin kommt auf mich zu: «Alles in Ord­nung! Wir sind froh, dass es Ihnen gut geht.» «Was ist hier los?», fragt meine Frau mit etwa sechs Sei­den­schals zur Auswahl im Arm. «Sie haben meinen Ausweis kon­trol­liert, alles in Ord­nung.» Die bei­den nick­en. «Wir waren um Ihren Mann besorgt.» «Ich auch, ich hätte ihn bald mit allen Mit­teln befre­it. Und jet­zt kön­nen Sie sich nüt­zlich machen und uns bei der Auswahl des Schals behil­flich sein.» Wir eini­gen uns erstaunlich rasch auf densel­ben Schal. «Die Polizei, dein Fre­und und Helfer», sage ich. «Den Gedanken müsstest du aber jet­zt noch poli­tisch kor­rekt for­mulieren», sagt sie. Zum ersten mal lächeln die bei­den Uni­formierten, als sie sich ver­ab­schieden. Und ich Idiot hat­te wed­er auf Rodin, noch auf Walther von der Vogel­wei­de hingewiesen … Eine kleine, belan­glose Episode an einem belan­glosen Norm-Sam­stag­mit­tag in ein­er norm-Stadt. Sprayen ist ver­boten – es hat nie­mand gesprayt. Lit­ter­ing auch – der meiste Abfall liegt in den entsprechen­den Behäl­tern oder wartet gestapelt, wie neben dem Keller­laden, auf die Entsorgungs­maschiner­ie. «Man kann also jed­erzeit, irgend­wo einen Men­schen anhal­ten, seine Ausweise ver­lan­gen und, hat er sie nicht auf sich, in Gewahrsam nehmen», sagt meine Frau. Ich zucke die Schul­tern und ver­suche zu lächeln. «Lach nicht! Das ist eine unge­heuer­liche Angele­gen­heit, und du lächelst ein­fach blöd vor dich hin.» «Ach, wir hören und lesen doch in den let­zten Monat­en in allen Medi­en den Aufruhr über Daten­skan­dale, Daten­miss­brauch, Daten­klau, Überwachungssys­teme aller Staat­en über alle Staat­en und natür­lich auch über ihre eige­nen Ein­wohn­er­schaften. Da ist es doch nur selb­stver­ständlich, dass auch Men­schen aus Fleisch und Blut ständig andere Men­schen aus Fleisch und Blut eben­falls in der Real­ität, nicht nur virtuell, überwachen.» «Hux­leys «Brave New World» ist All­t­ag gewor­den? Du hast recht, Utopi­en wer­den meist früher oder später von der Wirk­lichkeit einge­holt.» Hand in Hand gehen wir stad­tab­wärts auf die Korn­haus­brücke zu. Ich denke an die Schlussverse des berühmten mit­te­lal­ter­lichen Gedicht­es: «…
stîg unde wege sint in benomen: /
untri­uwe ist in der sâze,
/ gewalt vert ûf der strâze;
/ fride unde reht sint sêre wunt…» Der mit­te­lal­ter­liche Dichter schrieb sie im zwölften oder dreizehn­ten Jahrhun­dert. Hux­ley war noch längst nicht geboren; die Com­put­er hat­ten konkrete Denkar­beit noch nicht erset­zt; die Börsen von Tokio, New York oder Frank­furt bes­timmten noch nicht das poli­tis­che Geschehen, die Wirtschaft und die Medi­en glob­al und bis in die kle­in­sten Arbeit­sein­heit­en hinein, und den­noch klin­gen die Schlussfol­gerun­gen des Min­nesängers heute (noch) entset­zlich aktuell: «…Ver­rat liegt auf der Lauer, / Gewalt beherrscht die Straße; / Friede und Recht sind schw­er ver­wun­det…» Ein älter­er Mann, der «in Denker­pose» auf seine Frau wartet – ohne die ger­ing­ste Geschäftigkeit zu sig­nal­isieren, oder klar zu zeigen, dass er ein Per­fo­mance-Kün­stler mit Auftritts­genehmi­gung ist – den Pas­san­tinnen und Pas­san­ten zuschaut, passt nicht ins Bild ein­er normierten Gesellschaft, die Polizei MUSS fra­gen: «Dür­fen wir bitte Ihren Ausweis sehen?», bevor sie ihn zum Schutze vor sich selb­st und auch aller Normierten in Gewahrsam nimmt.

Foto: zVg.
ensuite, März 2014