Von Lukas Vogelsang — Das hervorragende Musiklabel ECM (Edition of Contemporary Music) von Manfred Eicher ist 40 Jahre alt geworden. In einem Interview meinte Manfred Eicher einmal, dass sich die «ECM New Series» «in Form einer Reise entwickle. Es gibt eine Route, die allerdings nicht auf den kürzesten oder direktesten Weg beharrt. Stattdessen erlaubt sie Umwege, die eventuell in neue Gebiete führen — weit ab vom eigentlichen Plan.»
Unterwegs zu sein mit Manfred Eicher, dem bedeutendsten Kenner, Entdecker und Vermittler von zeitgenössischer Musik, heisst ausziehen in eine Welt des Zuhörens, eine Welt jenseits des Mainstreams, welche trotzdem oder gerade deswegen ein Millionenpublikum in den Bann zieht. In der Informationsdichte und –welle, welche uns täglich überrollt, reflektieren wir nur mehr die Oberflächlichkeit der Wirklichkeit. Die Wahrheit der Dinge bleibt von uns ungehört und ungesehen verborgen. Manfred Eicher durchbricht mit seiner Kunst als Musiker und Produzent diese Trennung und ermöglicht dem Zuhörenden, dem Geheimnis des Unsagbaren auf die Schliche zu kommen.
Eichers stetes Suchen nach dem optimalen Klang und dem perfekten Moment der Musik ist legendär. Man erkennt ECM-Produktionen am Klang, man hört seine Handschrift. Jede Produktion ist geprägt durch eine unverkennbare klangliche Innigkeit, Tiefe und Präsenz — eine Art Manifest weltlicher Ehrfurcht, ohne aber pathetisch, religiös oder esoterisch zu wirken. Manfred Eicher arbeitet mit Ästhetik, Zeit und Raum und versteht sich als «recording producer». Eine Produktion ist vom ersten Ton bis zur visuellen Präsentation immer ein Gesamtkunstwerk. Seine Geduld, die immense Erfahrung und sein musikalisches Verständnis, aber auch der ausgeprägte Wille, sich nicht der Musikindustrie unterzuordnen und seinen eigenen Weg zu wählen, das pragmatische Suchen nach musikalischer Perfektion, haben die Musikgeschichte der letzten 40 Jahre mitgeschrieben.
Die Funktion Eichers Einfluss in der Musik beschränkt sich nicht auf seine Funktion als Musiker, Produzent, Vermarkter und Vermittler von Musik, er zählt zu den wichtigsten Impulsgebern neuer stilistischer Entwicklungen im Jazz und der modernen Klassik. Er bringt Musikerinnen und Musiker gemeinsam ins Studio, welche sich in diesen Konstellationen nie begegnen würden. Eicher arbeitet sehr intuitiv. Der Welterfolg «Officium» vom Hilliard Ensemble geschah nicht aus akribischer Planung heraus, sondern aus intuitiver Eingebung. Eicher hatte eine alte Einspielung gehört und fragte sich, wie das wohl tönen könnte, wenn Jan Garbareks Saxofon hineinspielen würde. Sie probierten es aus – kurze Zeit später war das «magische» Werk geboren.
Der Titel seiner ersten selbstproduzierten ECM-Schallplatte mit dem amerikanischen Pia-nisten Mal Waldron prägt Eichers Weg: «Free at last.» Und so pragmatisch ECM als Label und als Konzept auftritt, ohne das intuitive Wählen und Entscheiden, das Warten auf einen Moment, würde die Genialität und Perfektion in den Aufnahmen nicht funktionieren. Im Klang einer ECM-Produktion hört man das Leben, spürt man den Puls der Musik und vibriert als Zuhörer mit. Nichts kann erzwungen werden, nichts wird gedrängt. Eicher schafft es, den Raum und die Zeit jeweils so zu Formen, dass Platz für den Klang entstehen kann. Darin eröffnet sich den Musikerinnen und Musikern ein immenses und faszinierendes Kreativitätspotential. Und so manche Aufnahme, die im Beginn der Aufnahmesession noch schwach und dünn daherkommt, wächst in der Arbeit mit Eicher zu einem Klangkörper mit Dimension und Selbstbewusstsein.
«Musik ist der Mittelpunkt meines Lebens. Sie ist das Zentrum, und alles verzweigt sich von hier aus, hierher kehre ich immer wieder zurück: in die Konzertsäle, Kirchen, Studios. Musik ist meine Arbeit.»
Die Musik Als Hörerinnen und Hörer können wir auf diese Qualität bei ECM vertrauen – sie hat sich in den 40 Jahren nur noch mehr manifestiert. Deswegen wurde Manfred Eicher mit verschiedenen Auszeichnungen geehrt – deswegen sind seine Aufnahmen bei den Hörern begehrte Fundgruben für neue Klänge. Manfred Eichers Biografie ist seine produzierte Musik. Darunter sind bekannte Namen wie Jan Garbarek, Keith Jarrett, The Hilliard Ensemble, Arvo Pärt… Das 1975 aufgenommene «Köln Concert» von Keith Jarrett gilt mit über 3 Millionen Stück noch heute als das meistverkaufte Jazzalbum. Was 1969 mit Jazz begann, wurde 1984 mit «Tabula Rasa» von Arvo Pärt, durch Produktionen moderner klassischer Werke, erweitert, der «New Series». Damit öffnete ECM den klassischen und jazz-orientierten Hörern neue Klangdimensionen und dem Label ein weiteres Konzept. Wer heute von ECM spricht, meint damit oft Produktionen aus der New-Series-Reihe. Diese spricht ein sehr breites Publikum an. Eichers offenes Geheimnis für den Erfolg heisst: Zuhören, Zuhören, Zuhören.
ECM besitzt kein eigenes Studio. Die zehn Mitarbeiter in München, das Büro in New York und Tokio sind hauptsächlich mit den Herstellungs- und Marketingsprozessen beschäftigt, koordinieren die Musikerinnen und Musiker und deren Termine. Manfred Eicher selber ist in jedem Entscheidungsprozess mit dabei. Er hat den Überblick und die roten Fäden in den Händen – weswegen die Qualität der Produktionen über all die Jahre einheitlich und kontinuierlich geblieben ist. Seine Entscheidungen basieren auf dem Denken eines Musikers, nicht auf den Erfolgsregeln eines Marktes. Das kann für Aussenstehende manchmal schwierig nachvollziehbar sein, denn einige Produktionen sind trotz jeder Sorgfalt und Detailliebe schwer verkäuflich — für die Dokumentation eines Künstlers in seinem Schaffensprozess aber sehr wichtig. Und schlussendlich hat Eicher immer bewiesen, dass er mit seinen Entscheidungen richtig lag.
Der Anfang Er hatte an der Musikhochschule Berlin studiert und in verschiedenen Jazz-Formationen mitgespielt. Er hatte oft das Gefühl, dass gerade bei Free-Jazz-Aufnahmen diese Freiheit in der Musik nicht rüberkam. Im Jahr 1969 legte Manfred Eicher eine mögliche Karriere als Kontrabassist bei den Berliner Philharmonikern beiseite und gründete das Musiklabel Edition of Contemporary Music, kurz ECM. Karl Egger, ein Münchner Elektrohändler, bei welchem Eicher damals seine Schallplatten einkaufte, stieg mit ein und finanzierte ihm mit 16 000 Franken den Start für ein Stück Musikgeschichte und die Reise mit dem Klang.
Der ursprüngliche Sound von ECM-Musik fand seine Geburtsstunde zusammen mit dem Tonmeister Jan Erik Kongshaug. Bis Mitte der 90er-Jahre definierten die beiden im Rainbow-Studio in Oslo sozusagen das Ohr von ECM. Mittlerweile arbeitet Manfred Eicher auch mit Peter Länger, James Farber, Stefano Amerio, Gérhard de Haro in diverses Studios – immer im kleinen Team. Die Arbeit mit den Musikern im Studio dauert normalerweise nur drei bis vier Tage, dafür intensiv und konzentriert. «Während der drei bis vier Tage Aufnahmezeit kommt der richtige Moment manchmal unerhofft in einer Nachsitzung. Dann plötzlich ‹ereignet sich die Musik›, dann fühlen alle: Diese Fassung nehmen wir.»
Eicher ordnet sich selber einer «kammermusikalischen Ästhetik» zu, eher leisen und langsamen Bewegungen. Man könnte auch von einer «Poesie der Proportionen» sprechen. Durchsichtigkeit und Klarheit sind typisch für Eichers Arbeit, sei dies nun im Klang oder aber auch visuell. Die Platten- und CD-Hüllen aus dem Hause ECM sind fast ebenso berühmt wie die Musik. Wobei man sich durchaus fragen darf, worin eigentlich der Unterschied zwischen Bild und Ton genau bestehen soll?
Als Musikstudent schrieb Manfred Eicher Filmkritiken, das Kino ist noch heute eine grosse Inspirationsquelle für ihn. 1980 schrieb er, nachdem er den Film «Vivre sa vie» wieder einmal gesehen hatte, dem Filmregisseur Jean-Luc Godard seine Bewunderung. Dessen Arbeit, seine Erzählform, wie er mit der Sprache, Musik oder Stille arbeitet, hatte ihn tief beeindruckt. Jean-Luc Godard lud ihn auf ein Filmset ein, und das war der Grundstein für eine längere kreative Zusammenarbeit. Aus dem Soundtrack zum Film «Nouvelle Vague» entstand sogar ein eigenes ECM-Album, komponiert von Claire Bartoli und mit vielen bekannten Musikern wie Dino Saluzzi, David Darling und Patti Smith. Auch die Zusammenarbeit mit Godard beruht auf gegenseitiger Inspiration und Improvisation. Ein Austausch und Experimentieren mal mehr vom Auge oder vom Ohr her. Weitere Filme, in denen Manfred Eicher die Musik und Sounds arrangierte oder lieferte, waren «War Photographer», «Bella Martha», «Bruno Ganz – Behind me», um nur ein paar zu nennen. Durch die Produzententätigkeit versteht er es hervorragend, Bild und Rhythmus des Films mit Musik oder Sounds zu kombinieren. Selber war Manfred Eicher aber auch schon als Regisseur beteiligt: Mit Heinz Bütler zusammen drehte er 1992 «Holozän», nach der Buchvorlage von Max Frisch.
Die Bewegung Manfred Eicher ist im Gegensatz zu seiner eher ruhigen Klangästhetik immer in Bewegung. Er reist sehr viel von Aufnahmen hier zum Studio dort. Die Musik gleicht dabei einem Soundtrack zu seinem eigenen Film, den Gedanken, die zwischen zwei Punkten liegen. Sein Bewegungsdrang dokumentiert die Suche nach Klang, nach der Erfüllung einer Momentaufnahme oder auch nur nach weiteren Intensitätserfüllungen für ihn selber. Der geografische Raum ist dabei für Eicher nicht elementar. So gibt es für ihn ein übergeordneteres Ziel in der Musik als nur Stil: Die Musik selbst. Darin durchbricht er die Grenzen der Zivilisation und Politik und schafft Kunst, die im Klang und nicht im Ort liegt.
«Vielleicht bin ich ein mysteriöser Reisender. Ich reise viel und sehr oft entdecke ich Musik im Radio, höre sie, wenn ich im Auto unterwegs bin und halte dann an. Wenn ich den Kontakt zur Musik verliere, muss ich die Autobahn verlassen und manchmal, mit viel Glück, findet man eine Kapelle oder ein kleines Gasthaus, und vielleicht kann man in die Kappelle hineingehen. Viele Dinge geschehen durch Zufall. Danach muss man sich erinnern, wo dieser Platz gewesen ist – und vielleicht kehrt man an einen solchen Ort zurück. So gibt es viele Orte, und entsprechend der Notation oder welche Improvisation man im Kopf hat, muss die richtige Entscheidung für das richtige Umfeld getroffen werden. Manchmal ist das alles eine sehr teure Sache. Aber es ist eine Reise vom Ort, wo du herkommst zu den ersten Vorbereitungen zu einem Zusammentreffen, das erste Treffen mit den Musikern, dem ersten experimentieren mit Sound zusammen in einem Raum, das erste Erleben vom Mysterium. Musik ist auch ein Mysterium und geht Hand in Hand mit den Umständen vom Musikmachen. Das ist ein sehr wichtiges Kriterium für mich und für die meisten Musiker, mit denen ich arbeite.»
Manfred Eicher definiert seine Arbeit und das Label ECM viel weniger durch den Klang als durch dessen Stil und Programm. Es ist eine Art Klangskulptur. Doch in Worten lässt sich diese kaum beschreiben oder wenn, dann am ehesten mit der kleinen Geschichte von Arvo Pärt, welcher spontan an einer Bushaltestelle einen
Strassenfeger fragte: «Was glauben Sie, wie muss ein Komponist Musik schreiben?» – «Oh, was für eine Frage», antwortete dieser erstaunt, «er muss wahrscheinlich jeden Ton leben.»
«Ich bin davon überzeugt, dass Kunst nur dann berührt und durchdringt, wenn sie durch Wahrhaftigkeit und Leidenschaft entsteht. Und ich merke es immer deutlicher: Alles, was wirklich tief geht, muss glücken.»
«Sounds and Silence» — der Film von Norbert Wiedmer und Peter Guyer startet in den Kinos am 19. November (2009).
Info zum Film: www.rectv.ch
Info zu ECM: www.ecmrecords.com
Die Zitate stammen von Manfred Eicher.
Bild: Manfred Eicher, Videostill aus «Sounds and Silence» / zVg.
ensuite, November 2009