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EDITORIAL Nr. 107: Gäste und Wirte

Von Lukas Vogel­sang – Es ist für mich immer noch nicht ver­ständlich, wie viele Kul­turbe­triebe von Juni bis Okto­ber Ferien machen kön­nen. Das sind 5 Monate – fast ein halbes Jahr. Mit dem Argu­ment, dass bei schönem Wet­ter die Zuschauer nicht vor­beikom­men, habe ich Mühe. Und dass diese Kul­turbe­triebe dann auch nicht fähig sind, wenig­stens während dieser Pause die Presse-arbeit und Vor­bere­itun­gen zu erledi­gen – das ärg­ert mich regel­recht. Das hat nichts mit Geld zu tun, nichts mit dem Pub­likum. Oft­mals ist das ein­fach unpro­fes­sionell.
Wer Kul­tur anbi­etet ist ein Gast­ge­ber. Kul­turin­sti­tu­tio­nen — und dazu zäh­le ich auch jedes Restau­rant, Kino, jeden öffentlichen Anlass — «bewirten» Pub­likum. Man ver­di­ent Geld damit, dass man Gäste bei sich aufn­immt und ihnen nach bestem Wis­sen und Kön­nen einen angenehmen Aufen­thalt ver­schafft. Allerd­ings macht man das nor­maler­weise so geschickt, dass nicht das Geld­ver­di­enen im Vorder­grund ste­ht und das Pub­likum wieder kom­men will. Sie lachen jet­zt vielle­icht – doch erlebe ich oft­mals, dass ich auss­er ein­er Tick­etkasse und einem dun­klen stick­i­gen Raum nicht viel mehr zu sehen kriege. Ich habe schon vor zehn Jahren erk­lärt, dass nicht nur das kün­st­lerische Event auf der Bühne, son­dern auch der Ort und die Men­schen drumherum wichtig sind. Wir sind in der Schweiz kul­turell über­sät­tigt und geniessen die Frei­heit, unser Freizeit­pro­gramm wählen zu kön­nen. Das bed­ingt natür­lich, dass man sich als Ver­anstal­ter her­vorheben oder charak­ter­isieren muss. Das scheint bei vie­len Kul­tur­an­bi­etern vergessen gegan­gen zu sein. Ver­standen haben das die Club-BetreiberIn­nen, die ohne diese Spezial­isierung gar kein Über­leben hät­ten.

Kul­tur formiert immer Grup­pen, bildet Men­gen, verbindet und tren­nt. Dies ist haupt­säch­lich der Grund, warum Kul­tur wichtig ist: Wir ler­nen uns zu definieren, was wir sind, sein wollen und was nicht. Durch Grup­pierun­gen gelingt es uns, eine Iden­tität zu erhal­ten oder anzunehmen. Ver­suchen sie das mal alleine, es ist ziem­lich schwierig. Natür­lich verbinden wir uns auch über das Büh­nen­pro­gramm, der Kun­st, wieder mit Grup­pen. Der Mech­a­nis­mus ist der Gle­iche.

Viele Kul­tur-Gast­wirte laden heute ein­fach per E‑Mail ein. Die Grup­pen existieren nur in ein­er Mail­ingliste oder im Face­book. Das ist so unper­sön­lich und see­len­leer, dass es kaum meine Aufmerk­samkeit erhält. Vor allem füh­le ich mich nicht per­sön­lich ein­ge­laden, werde als Gast anonym behan­delt. Das ist nicht gast­fre­undlich. Dabei gilt bei der Gast­fre­und­schaft immer auch die umgekehrte Seite: Man erhofft sich, dass der Gast sich revanchiert.

Das klingt natür­lich etwas abstrakt und lust­los, ist unro­man­tisch, aber auf dem Boden. Und diese Zusam­me­nar­beit gilt eben auch für die Presse: Wie wollen die Kul­turschaf­fend­en uns Press­eschaf­fende für sich gewin­nen, wenn sie uns nur ein E‑Mail senden? Wenn sie immer «last-minute»-Promo machen? Viele Ver­anstal­terIn­nen und Kün­st­lerIn­nen sehen es als die Pflicht der Medi­en an, dass wir über sie schreiben müssen. Wozu? Warum? Und sagt jet­zt nicht: «Weil es wichtig ist!» Das fühlt sich an, wie der Staub­saugerverkäufer oder die Zeu­gen Jeho­vas vor der Haustüre.

Ich habe im Okto­ber das Ver­ständ­nis von Gast­fre­und­schaft auf ein­drück­liche Weise erleben dür­fen: Ich wurde an eine Ausstel­lungseröff­nung nach Paris ein­ge­laden, Flug und Hotel wur­den bezahlt. Nicht ein­mal während der gesamten Zeit wurde eine Bedin­gung an uns Medi­en­schaf­fende gestellt, noch wur­den wir darauf ange­sprochen, über die Ausstel­lung zu schreiben. Für den Gast­ge­ber war es selb­stver­ständlich, dass er die Medi­en aus aller Welt ein­fliegen liess (schön, wenn man das Geld dazu hat). Die inter­na­tionale Presse hat­te dadurch Zeit, sich in aller Ruhe mit der Sache auseinan­derzuset­zen. Keine Forderun­gen – nur Ein­ladun­gen. Das hat Stil und gibt uns Medi­en­schaf­fend­en eine faire Frei­heit zurück – diese dür­fen und kön­nen wir wiederum mit unseren LeserIn­nen teilen. Also, liebe Ver­anstal­terIn­nen: fer­tig Ferien. Um die Gun­st der Presse muss man sich bemühen. So geht das.


Foto: zVg.

Pub­liziert: ensuite Aus­gabe Nr. 107 Bern, Novem­ber 2011

Artikel online veröffentlicht: 1. November 2011 – aktualisiert am 26. März 2024