Von Lukas Vogelsang – Wir pflegen an Neujahr zurückzuschauen auf das vergangene Jahr und versuchen, auf obskure Arten in die Zukunft zu blicken. Nur wenige schaffen es dabei, die Verbindung der Kausalitäten von Vergangenem in die Zukunft zu verfolgen und die entsprechenden Rückschlüsse zu ziehen. Dabei wäre dies wesentlich einfacher als die Interpretation von Kaffeesatz und Tarot-Karten. Und wenn wir etwas ehrlicher wären mit uns selber, würden wir viele Dinge über die Zukunft sehr wohl wissen. Nur: Wollen wir das wirklich? Das Mutmassen lässt uns oft in der erträglicheren Illusion, und vor allem gaukelt es uns mehr Freiheiten vor.
So glauben wir lieber daran, dass die Menschheit doch noch zur Vernunft kommen wird, als dass wir akzeptieren, dass Autofahrer heute beim Fussgängerstreifen Gas geben – statt zu bremsen. Bei Gefahren scheint sich der Mensch heute gegenteilig zum Verstand verhalten zu müssen, vielleicht um das «Ich» besonders imposant von den anderen abheben zu können. Bei Regen ohne Licht mit 180 km/h über die Autobahn brettern, demonstrativ Wasser aus atomverseuchten Gebieten trinken, oder, schon fast banal, bei drohendem Regierungsumsturz die Opposition einfach niederballern. Als hätten die Philosophen dieser Welt nie existiert – dem guten Beispiel voran Immanuel Kant mit dem «kategorischen Imperativ»: «Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.» Dabei gehe ich natürlich davon aus, dass wir generell auf Fussgängerstreifen nicht überfahren werden wollen.
Davon scheinen wir weit weg zu sein, und die neuen Gesetze, die uns als einzige Massnahmen der gesellschaftlichen Massregelung in den Sinn kommen, greifen nicht. Ich befürchte gar, das Gegenteil ist der Fall: Der Mensch fühlt sich dermassen isoliert, dass ein neues Lebenskonzept die alten Entwürfe abgelöst hat: «Und jetzt bin ich dran.» Unter dieser Voraussetzung wird unsere gemeinsame Zukunft ziemlich kompliziert.
Früher benötigten wir religiöse Rituale und Bräuche, um die Gemeinschaften geistig einigermassen wach zu halten. Besser war das natürlich nicht – aber es gab eine Struktur und klare Machtverhältnisse. Die Kirchen haben schon lange diese gesellschaftliche Funktion abgegeben. Das Spektakel der Sünde hat die Logik und deren Sinn verloren – Sünden? Welche Sünden? Unsere gesellschaftlichen Vorbilder und Leithammel sind prächtig fehlbar, und die Herde läuft hinten nach. Wer den vermeintlichen Erfolg nicht schafft, ist vergessen, nicht relevant und ein «Loser». Aus der Sicht der SVP zum Beispiel sind dies alle jene, die sich für sozial Schwächere einsetzen. Ich finde das faszinierend. Im Gegenteil: Heute wird Ausbeutung und Veruntreuung als Erfolgsmodel zelebriert und wer sich dem nicht beugt, wird ausgeschlossen oder fällt durch die Maschen des gesellschaftsfähigen Siebs. «Eintritt ins Paradies», dies bislang als höchste Errungenschaft und Ziel eines Menschenlebens, haben wir im Gebärsaal auf ein Schild geschrieben (zumindest glauben wir das). «Nach uns kommt nichts mehr – also nimm was du kannst, jetzt.»
Deswegen: Jetzt wären Kulturkonzepte gefragt. Wenn wir uns schon keinen Religionen mehr anschliessen können, so wäre Arbeit an den Werten einer Gesellschaft durch Kulturpflege angesagt. Doch gerade hier hat die Politik in den letzten 20 Jahren tief geschlafen. Davor gab es gute Ansätze – diese wurden aber nicht verstanden und, auch in kulturellen Kreisen, viel zu wenig diskutiert. Eine kleine Minderheit denkt noch daran, doch stirbt die langsam aus oder aber ergibt sich in Hoffnungslosigkeit. In der Hauptstadt Bern gibt es kein Leitbild, Konzept oder Grundlage für kulturelle Fragen mehr. Die Stadtpolitiker befanden es nicht für nötig, mindestens alle vier Jahre eine Standortbestimmung wahrzunehmen, oder doch zumindest einmal darüber nachdenken zu müssen. In Zürich wiederum existiert ein regelrechtes Handbuch über Kultur – doch wird dieses fast kommentarlos im Gemeinderat durchgewunken – keine Ahnung, ob das immense Werk, ausser vom Korrektorat, jemals von jemandem durchgelesen wurde. Das erklärt auch, warum die Selbstwahrnehmung von Zürich bezüglich dem Kulturellen masslos daneben liegt. Nur gelebte Kultur ist Kultur. Der Rest nennt sich «Kulturwirtschaft» und darin gelten die gleichen abartigen Gesetze wie in jedem Wirtschaftsbereich. Und mit dieser Wirtschaftlichkeit wird es sehr bald vorüber sein, wenn wir nicht umgehend im Internet die Gratis-Literatur‑, ‑Musik‑, ‑Kino-/Film-Streamseiten in den Griff kriegen. «Alles gratis» ist der Tod von jeglicher Finanzierung, Wertschätzung, und jeglichem künstlerischen Inhalt. Vor allem aber wird damit Kultur zur einfachen Unterhaltung für gelangweilte Menschen, die sich nur berieseln lassen wollen. Und wohlverstanden: Nicht das Geld bestimmt die Kultur, aber deren Überlebensfähigkeit in einer kapitalistisch und egozentrisch fokussierten Welt. Deswegen argumentieren PolitikerInnen in Kulturfragen gerne mit Begriffen wie: «Stärkung vom Wirtschaftsstandort», «Erhalt von Arbeitsplätzen» und «Förderung des Tourismus».
So. Und jetzt? Wie also sieht unsere Zukunft aus? Male ich ein zu düsteres Bild? Schaffen wir es oder hoffen wir nur, dass sich Menschen verändern können? Und was wollen wir eigentlich erreichen – und was davon im Jahr 2012?
ensuite – kulturmagazin, von der öffentlichen Kulturförderung als «nicht kulturvermittelnd» ausgeschlossen, wird Sie – mit Ihrer Unterstützung – auch durch dieses Jahr begleiten, und hoffentlich moralisch wieder aufbauen …
Foto: zVg.
Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 109 Bern, Januar 2012