Von Lukas Vogelsang – Kunstschaffen irritiert Kunstschaffen – etwa so musste sich die Intervention von Greenpeace angefühlt haben, welche am Samstag, 19. Oktober vor der Tonhalle in Zürich stattfand: Ein Cellist, eine Balletttänzerin, welche den sterbenden Schwan in einer Öllache tanzte und eine kleine Werbekulisse im Hintergrund, welche den Hauptsponsor „Gazprom“ und dessen Tätigkeiten in der Antarktis an den Pranger stellte, brachten die Botschaft konsequent rüber. Der Veranstalter hätte sich einen Polizeieinsatz gewünscht – obwohl das Publikum andächtig der Inszenierung zusah. Eine ziemlich groteske Situation.
Ähnlich schwierig war dies im Kunstmuseum Bern mit der Holcim-Ausstellung „Industrious“ im Jahr 2012. Diese war von einer Werbeagentur für den Holcim-Konzern konzipiert und der Direktor vom Kunstmuseum Bern wurde sogar von dem Konzern nach Asien in die Ferien eingeladen, nur damit das Prädikat „künstlerisch wertvoll“ gegeben sein wird. Eine Definition, die gemäss dem Direktor „eine Sache der Direktion“ ist. Noch Fragen? Allerdings soll dies jetzt niemanden anschuldigen, sondern nur zeigen, wie kompliziert diese Gefüge sind.
Ebenso irritierend empfinde ich es nämlich, wenn sich nach einer Premiere im Stadttheater Bern die Belegschaft der Institution sich selber beklatschen. Ist ihnen dies schon mal aufgefallen? Ich kenne auch keine Baufirma, die nachdem sie das Gerüst aufgebaut hat, ein Freudetänzchen aufführt. Aber im Theater, nach einer Vorstellung wird vor dem normalen Publikum immer wild gepfiffen und Stimmung gemacht – fast immer aus dem Parterre, den hinteren Reihen. Die halbe Belegschaft des Stadttheaters mit Freunden und Freundesfreunden sitzen da und animieren das Publikum. Versuchen sie im Anschluss, etwas Kritisches über die Inszenierung zu äussern… Dies ist kaum noch möglich und da geben sich sogar eingesessene KritikerInnen der Tageszeitungen sehr „diplomatisch“ mit der Stückkritik.
Aber das ist noch lange nicht alles. Die Beispiele aus der Kulturförderung beschreibe ich ja schon seit Jahren und in diesen Kreisen wird man nie müde, sich selber auf die Schultern zu klopfen. Oder haben sie, liebe LeserInnen, jemals gehört, dass zuständigen Behördenstellen das eigene Amt schlechtreden? Hat Regierungsrat Pulver je zugegeben, dass ihm die Kulturabteilung – und seien wir ehrlich, auch die Bildungsabteilung – ziemlich schwer liegen? So viel Ehrlichkeit fällt nicht mal dem Bundesamt für Strassen ein, welches erst gerade durch einen 60-Millionen-Skandal in die Schlagzeilen geraten ist. Das sei doch weltweit so – könnten man jetzt sagen. Nur entschuldigt dies leider gar nichts.
Es ist ein Teil des Menschen, unserer Kultur, liegt in unseren Genen, zu lügen und gutzureden, was schon längst aufgedeckt falsch ist. Anders kann man das nicht mehr erklären. Es zieht sich durch die gesamte Gesellschaft und selbst das Facebook-Profil ist eine schöngestellte Inszenierung eines sonst vielleicht unbescholtenen Users. So sitzen wir im Publikumsbereich des Theaters und wollen auch nichts anderes sehen, als schöninszenierte Lügen. Wer möchte schon im Facebook umgeben sein von der Wahrheit – diesen Spiegel wollen wir nicht. Wir wollen zu den Guten gehören. Wir wollen keine ehrliche Kritik, die beschreibt, was wirklich gesehen wurde, sondern wir wollen, dass die gesellschaftliche Illusion aufrecht bleibt.
Um doch noch ein wenig „Selbstkritik“ vorzugaukeln, werden politisch einzelne Themen herauffokussiert und zu Spielbällen. Mal gewinnt rechts, mal links, aber so gut wie nie geht es um die Sache selber. Die 1:12 Initiative beispielsweise liefert hierfür ein gutes Schauspiel. Gerade mal 0.4 % von Unternehmungen wären von einer neuen Gesetzesvorlage betroffen, aber mindestens 312‘861 Unternehmen würden zusammen Formulare von mindestens eins bis zwei Tonnen Papier ausfüllen, es gäbe einen neuen Abteilungschef für ein ca. 15-köpfiges Team und einen Juristen-Stab, der sich mit den Problemen befassen müsste. Ich bin nicht gegen 1:12 im Denkansatz, aber die Lösung ist es nicht. Ein absolut surrealer Aufwand für eine so kleine Minderheit von Egozentrikern, die sich selber moralisch aus der Gesellschaft gemogelt haben. Die Emotionalität aber brodelt in beiden politischen Lagern über. Es geht um Punkte. Doch sind wir ehrlich: Würde sich irgendetwas verbessern in der Welt, wenn die Initiative angenommen würde? Nein. Das Einzige, was wir damit bewirken ist, dass wir eine weitere Illusion kreiert hätten, die „Guten“ und die „Bösen“ näher zueinander zu bringen. Doch das Gegenteil wäre erreicht: Diese Polarisierung weckt nur die Missgunst in uns. Und so werden die Lager rasch ein neues Reizthema voranführen, um die Punkte wieder auszugleichen…
Wir leben in einer Welt der Illusionen. Wir haben das so entschieden und sind allem Anschein glücklich darin. Stellen sie, liebe LeserInnen, einfach keine Fragen. So bleiben die Illusionen erhalten — jede gestellte Frage, rüttelt an diesem Gerüst. Denn wir wissen nicht, was wir tun.
Foto: zVg.
Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 131, November 2013