Von Lukas Vogelsang – Jugendliche wurden vor zwanzig Jahren mit bösen Blicken bestraft, wenn sie mit dem Walkman in den Strassen walkten. Gehörschäden und Entsozialisierung fluchte man ihnen hinterher. Heute läuft fast jeder und jede mit irgendwelchen Stöpseln in den Ohren in den Strassen und kein Mensch sagt etwas. Im Gegenteil, es gehört zum guten Ton.
Täglich lesen wir über Raser und die bösen Jugendlichen, die viel zu schnell mit dem Auto unterwegs sind. Wir fordern mehr Gesetze und sind streng, wenn wir einen Raser erwischen. Doch auf der Autobahn werde ich wesentlich häufiger von älteren Mercedesfahrern, Luxuskarossen und Schickimicki-Offroadern überholt. Die meisten FahrerInnen sind über 45 Jahre alt. Und irgendwie sagt niemand was – gehört wohl auch zum guten Ton.
Die halbe Welt kreischt wegen der UBS, bösen Bankern und den Superreichen. Alle diese «Bösewichte» sind meistens älteren Datums. Unsere Vorgeneration, auch Vorbilder genannt. Und während die Welt schreit, gehen wir im billigsten Laden einkaufen und versuchen unseren Luxus zum Schnäppchenpreis zu ergattern. Ich weiss nicht, gehört das auch zum guten Ton?
Bundesräte gehören abgewählt, PolitikerInnen sind allesamt unfähig, die Bürger wissen alles besser – sagt man. Doch keine einzige Partei noch sonst irgendwelche HeldInnen können wir präsentieren, die irgendeine bessere und funktionierende Idee hätten. Daran leiden vor allem die Parteien und Medien — die grössten Schreihälse. Aber Rücktritte zu fordern gehört zum richtig guten Ton.
Wahrscheinlich gehört es einfach zum guten Ton, dass man wenigstens einen Grund nennen kann, wenn man schreit. Wir schreien aber, weil wir nicht zufrieden sind mit dem, was wir erschaffen haben. Wir schreien also wegen uns selbst. Ist das nicht eine erschreckende Feststellung? Zum Schreien.
Daneben haben wir endlich wieder mal einen wunderschönen, schneereichen Winter gehabt und schon bald erwacht der Frühling. Die ersten Singboten sind schon da. Sie schreien nicht. Ich freue mich.
Foto: zVg.
Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 75 Bern, März 2009