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EDITORIAL Nr. 75 Bern

Von Lukas Vogel­sang – Jugendliche wur­den vor zwanzig Jahren mit bösen Blick­en bestraft, wenn sie mit dem Walk­man in den Strassen walk­ten. Gehörschä­den und Entsozial­isierung fluchte man ihnen hin­ter­her. Heute läuft fast jed­er und jede mit irgendwelchen Stöpseln in den Ohren in den Strassen und kein Men­sch sagt etwas. Im Gegen­teil, es gehört zum guten Ton.

Täglich lesen wir über Ras­er und die bösen Jugendlichen, die viel zu schnell mit dem Auto unter­wegs sind. Wir fordern mehr Geset­ze und sind streng, wenn wir einen Ras­er erwis­chen. Doch auf der Auto­bahn werde ich wesentlich häu­figer von älteren Mer­cedes­fahrern, Luxu­skarossen und Schickim­ic­ki-Offroad­ern über­holt. Die meis­ten FahrerIn­nen sind über 45 Jahre alt. Und irgend­wie sagt nie­mand was – gehört wohl auch zum guten Ton.

Die halbe Welt kreis­cht wegen der UBS, bösen Bankern und den Super­re­ichen. Alle diese «Bösewichte» sind meis­tens älteren Datums. Unsere Vor­gen­er­a­tion, auch Vor­bilder genan­nt. Und während die Welt schre­it, gehen wir im bil­lig­sten Laden einkaufen und ver­suchen unseren Luxus zum Schnäp­pchen­preis zu ergat­tern. Ich weiss nicht, gehört das auch zum guten Ton?

Bun­desräte gehören abgewählt, Poli­tik­erIn­nen sind alle­samt unfähig, die Bürg­er wis­sen alles bess­er – sagt man. Doch keine einzige Partei noch son­st irgendwelche HeldIn­nen kön­nen wir präsen­tieren, die irgen­deine bessere und funk­tion­ierende Idee hät­ten. Daran lei­den vor allem die Parteien und Medi­en — die grössten Schrei­hälse. Aber Rück­tritte zu fordern gehört zum richtig guten Ton.

Wahrschein­lich gehört es ein­fach zum guten Ton, dass man wenig­stens einen Grund nen­nen kann, wenn man schre­it. Wir schreien aber, weil wir nicht zufrieden sind mit dem, was wir erschaf­fen haben. Wir schreien also wegen uns selb­st. Ist das nicht eine erschreck­ende Fest­stel­lung? Zum Schreien.

Daneben haben wir endlich wieder mal einen wun­der­schö­nen, schneere­ichen Win­ter gehabt und schon bald erwacht der Früh­ling. Die ersten Singboten sind schon da. Sie schreien nicht. Ich freue mich.


Foto: zVg.

Pub­liziert: ensuite Aus­gabe Nr. 75 Bern, März 2009