Von Lukas Vogelsang – Wie noch nie stehen die Verhältnisse auf dem Kopf: Wir wollen überall erreichbar sein, besitzen jede Kommunikationsmaschine und haben uns nichts mitzuteilen. Wir haben TVs mit mehr Programmen, als wir in einer Woche sehen können, und es läuft nichts, was man nicht verpassen kann. Unsere Fahrräder sind so teuer wie Occasion-Autos und wer ins Spital muss, will ein Einzelzimmer mit Ausblick — die Gesundheitskosten sind in den Wolken. Wer krank wird, kriegt eine „Auf-Knopfdruck-gesund-Tablette“. Essen, ja, überall und schnell – Alkohol ist fast immer dabei, beim Wasser sind wir wählerisch. Kino, Theater, Konzerte müssen unterhalten, Hauptsache lustig, und das Publikum trinkt Bier und spricht selbst mehr, als jene auf der Bühne. Bücher ja, aber bitte einfache Geschichten und bitte mit weniger Buchstaben. Bezahlen müssen wir nicht, es läuft über Kredit, und verdienen tun wir für zwei Grossfamilien – wir haben trotzdem kein Geld. Experimente sind gefragt und Mut wird belohnt, aber nur wenn’s funktioniert. Alles gelingt – was nicht gelingt, gibt es nicht, und wir vergessen ganz schnell. Wir lernen nicht mehr aus Fehlern, sondern schlucken Ritalin. Wir wollen heute Arbeit für alle – egal ob mit oder ohne Lohn. Harmlos: Das Qualitätsniveau wird tiefer angesetzt, und Hauptsache, es bleibt politisch sexy.
Die Welt hat sich uns angepasst, nicht der Mensch der Welt. Dies lernen wir den nächsten Generationen. Das ist unsere Kultur.
Aktuell ist die Filmbranche Schweiz aufgebracht, weil das Kulturfördergeld nicht mehr so fliesst, wie das seine Gewohnheit hatte und gewünscht wird. Es sind neue Regeln aufgestellt worden und das passt der Branche verständlicherweise nicht. Dem BAK (Bundesamt für Kultur) wird vorgeworfen, dass Geld mit zu vielen Vitaminen zu verteilen. Wer Geld erhält, lächelt vitaminreicher, die anderen liegen unter dem Tisch. Sicher, Kritik an einem Verteilsystem von Fördergeldern ist immer berechtigt, denn wenn alles «sauber» läuft, erledigt sich das Thema von selbst (nette Illusion, oder?). Das ist keine Entschuldigung für die fehlende Selbstkritik der Filmschaffenden: Vielleicht sollte mal etwas an den Drehbüchern gedreht werden und es täte ganz gut, zu überlegen, was ein guter Film sein könnte (Dramaturgie, Kamera, Psychologie, Bewegung, Musik, …). Zur Erinnerung: Die Dogma-Filme, welche Lars von Trier mit Freunden initiiert haben, arbeiteten teilweise mit Produktionsbudgets von 45 000 Franken und spielten Millionen ein. Das könnten wir SchweizerInnen doch auch. Nur läuft es hier umgekehrt: Ein paar Millionen Produktionsfranken bringen mal ganze 45 000 Personen ins Kino (und das wäre dann bereits ein Topfilm).
Wie noch nie stehen die Verhältnisse auf dem Kopf. Ein Chaos aus Wünschen und Realitäten. Das ist der Zustand, wenn eine Gesellschaft die Fixpunkte, Orientierungssysteme und Wertvorstellungen verliert. Es gibt keine Richtlinien mehr, gut oder falsch sind aufgelöst. Die offizielle Kirche schläft – dabei wäre das ihre beste Zeit. Sie haben das Feld den Freikirchen überlassen. Wildwuchs. Es ist ausgeglaubt und die ICH AG übernimmt das Wissen. Das ist philosophisch gesehen sicher ein interessanter Zustand, doch erinnert es an Moses, das goldene Kalb — und im gleichen Atemzug erhalten die Selbstmord-Terroristen ihre Berechtigung. Wir stehen kurz davor: Der Turm zu Babel wird wieder zusammenbrechen und wir werden uns einmal mehr neu orientieren müssen. Das ist alles. Die Geschichte beginnt von vorne. Keine Sorge, niemand wird sich darum kümmern – ausser WIR tun es.
Ganz was anderes: Unser neues Kleid kommt sehr gut an. Das Feedback hat als einzig negative Meldung tatsächlich «zu viele Buchstaben» hervorgebracht. Es sei zu dicht. Einen ähnlichen Satz habe ich mal in einer Mozartverfilmung gehört: «Zu viele Noten.» Jemand meinte noch, wir sähen jetzt aus wie ein billiger Groschenroman. Aber wir haben überraschend viele positive Noten erhalten. Das sehen wir auch in den unzähligen neuen Anfragen, Bewerbungen und «Wie-komme-ich-ins-ensuite-Fragen». Oh, fast hätte ich es vergessen: Nur kosten darf‘s natürlich nichts.
Foto: zVg.
Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 81, September 2009