Von Lukas Vogelsang – Das Jahr 2010 wird ein Moral-Jahr. Zu lange haben wir uns in unseren Gesellschaften davor gedrückt, «Moral» im Alltag zu diskutieren und den Wert weiterzuentwickeln. Wir haben zwar Computer, mobile Telefone, funkferngesteuerte Babywächter, hyperintelligente Kochtöpfe, ökologische und nichtökologische Fortbewegungsmittel, biologisches und antianimalisches Essen … Aber keine Moral mehr. Die Religionen streiten, und deren Götter verkünden alles andere als Frieden und Freiheit – ohne Ausnahme. Die Schulen setzen auf «Multiple Choice» – auch in der Erziehung – und die Eltern, statt die Kinder, füllen diese Fragebogen aus. BankerInnen und PolitikerInnen sind verfilzt oder tun und lassen, wie ihnen beliebt. Die SVP freut’s, weil sie Moral als solches noch nie verstanden hat und sie die haitischen Flüchtlinge jetzt lieber in den Trümmern liegen liesse – auf jeden Fall nutzen sie die nächste Gelegenheit, um daraus eine Volksabstimmung zu machen, während die Linken noch darüber diskutieren, wer jetzt Kaffee kochen soll. Die Medien wiederum hauen jeden in die Pfanne und versalzen die Gesellschaft damit. Fragen oder hinterfragen tut niemand mehr.
Durch einen Zufall bin ich gleich zweimal innerhalb einer Woche über ein paar Freunde und dadurch über Herbert Distel und damit über ein ganzes Universum gestolpert. 1973 druckte die Nationale Zeitung (wurde zur Basler Zeitung) jede Woche eine Kunstseite (press-art). Auf einer solchen Zeitungsgrafik, die von Herbert Distel stammt, stand: «Haben Sie sich schon einmal die Frage gestellt?»
Gerhard Johann Lischka schrieb dazu im Begleittext: «Dieser Satz enthält erst dann Bedeutung, wenn eine gesellschaftliche Situation so beschaffen ist, dass Fragen eben nicht mehr gestellt werden, das heisst eine Situation, in der Antworten überall uns überfallen und die Zeit zur Frage erstirbt.» Heute ist eine solche Kunstaktion schon gar keine Kunst mehr – heute ist sie nackte Notwenigkeit.
Zum fünften Mal wünscht die SVP oder die karriereeifrige Jungmannschaft davon, im Herbst die Reitschule in Bern zu einem Schwimmbad umzustürzen. Zum fünften Mal werden sie es nicht schaffen und sich selbst der Lächerlichkeit preisgeben. Gerade die Reitschule ist trotz voranschreitender Zeit noch eine der wenigen Kulturinstitutionen in der Schweiz, die sich über gesellschaftliche Themen öffentlich und laut Gedanken macht. Wir wollen die Moral aber nicht in einem geplanten, überflüssigen Hallenbad ersäufen lassen, sondern müssen diese diskutieren. Nicht nur, aber spätestens seit der Minarett-Initiative haben wir SchweizerInnen verstanden, dass unsere Dialogsbereitschaft zu wünschen übrig lässt – vor allem stellen wir die falschen Fragen. Genau darum geht’s in diesem Jahr.
Und wo die Moral sitzt, ist auch unscheidbar Kultur zuhause. Wo über Moral diskutiert wird, ist auch die Kultur einer Veränderung ausgesetzt. Während in Bern über die Reitschule und über die Funktion des neuen PROGR diskutiert wird, sucht sich Zürich ab Mitte Jahr durch den neuen Kultursekretär seine Definition. Im März wird die schweizerische Kulturelite am «Forum Kultur und Ökonomie 2010» über das Thema «Kunst macht glücklich – Über Rechtfertigungsstrategien für Kulturförderung» tagen. Es passt alles zusammen, aber eine Moral müssen wir erst noch finden.
Foto: zVg.
Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 86, Februar 2010