Von Lukas Vogelsang – Es gibt einen einfachen Trick, Kulturschaffende oder Kulturförderer auf die «Palme» zu jagen: Fragen Sie einfach: «Was ist Kultur?» oder noch besser: «Warum soll Kultur wichtig sein?» Diese Fragen dürfen heute nicht mehr gestellt, geschweige denn, noch darüber nachgedacht werden, sie gelten im Gesellschafts-Knigge als eine der Todsünden im Umgang mit geladenen Gästen. Doch probieren Sie es aus … Entweder wendet man sich bei den Apérohäppchen mit schlechten Entschuldigungen ab, oder aber man bestaunt Sie ungläubig – ungläubig, dass Sie noch so hinter dem Mond sein können. Einige freundliche Menschen werden dann versuchen, diese Fragen mit ein paar faden Begründungen wie «das ist Bildung», «schafft Arbeitsplätze» oder ganz übel: «hat mit der geistigen Entwicklung einer Gesellschaft zu tun» … zu erklären. Aber nach fünf Minuten ist das Thema erschöpft. Mit gleichem Erfolg könnten Sie die Frage nach einem Gottesbeweis stellen.
Irgendwie erschütternd. Und es erstaunt mich auch nicht, dass die grossen Schweizer Denker mit Dürrenmatt und Frisch schlicht ausgestorben sind und es ziemlich ruhig geworden ist. Für das Denken ist kaum Platz in unserer Kultur. Ein kleiner Rest nagt noch an den alten Büchern und Gedanken, doch viele sind es nicht mehr, und es gedeiht auch nicht eine neue Schweiz aus diesem Gedankengut. Ich sehe sie zumindest nicht. Vielleicht hat diese fehlende Kultur etwas mit den bodenlosen Boni zu tun oder mit der Politik, die nur noch für die Politik politisiert und nicht mehr für die Menschen, die davon betroffen sind. Vielleicht hat diese Kulturlosigkeit damit zu tun, dass junge Generationen ihre sozialen Netzwerke vermehrt im virtuellen Raum statt in der Realität suchen.
Ich höre sie schon, die Stimmen, die mir jetzt erklären wollen, dass eben genau dies die neue Kultur sei. Immerhin, ProHelvetia und das BAK haben jetzt, zwar ungefähr 20 Jahre zu spät, im Sinn, mit einem Budget von 1,5 Millionen Franken Ausstellungen, Publikationen und die Entwicklung «kulturell wertvoller Spiele» zu fördern. Reale Brett- und Gesellschaftsspiele wurden bisher nicht gefördert – aber im virtuellen Raum gelten sie jetzt als begehrte Förderungsobjekte. Je weniger Kultur und Kunst mit Menschen zu tun hat – so der Eindruck, der daraus entsteht – umso lieber wird diese gefördert. Vielleicht eben gerade deswegen, weil Kultur als Ware, Objekt, als Abstraktum und nicht als etwas Inhaltliches, mit Herz und Seele, etwas Lebendiges gilt. Eine interessante Entwicklung.
Ich bin über die Rede von Friedrich Dürrenmatt gestolpert, die er anlässlich des Grossen Literaturpreises des Kantons Bern 1970 gehalten hatte: «Ich komme mir heute sowohl als Kulturpreisträger wie auch als Theatermann fragwürdig vor. Die Fragwürdigkeit liegt weder in meinem gescheiterten Basler Theaterexperiment noch im Preis. Sie liegt in der Kultur selbst und in der Frage, ob ein heutiger Staat überhaupt noch etwas mit Kultur zu tun habe, ob der Staat nicht dazu da sei, nur technische und soziale Aufgaben zu bewältigen, ob die Kultur nicht ausserhalb der Kompetenz des Staates liege und vom sozial betreuten Bürger privat zu betreuen sei.» Und etwas weiter unten dann: «Wie das Wetter ist auch die Kultur veränderlich und nur ungenau vorauszubestimmen. Vor allem aber ist sie nicht, wir man im Westen und im Osten glaubt, ein Besitz. Wir meinen, dass wir Kultur besitzen, wie wir Häuser, Vermögen oder Armeen besitzen. Wir halten uns für kultiviert.» Sehr einleuchtend dann noch dies: «Die Kultur Europas veränderte die Welt nicht in erster Linie durch ihre Kunstwerke, weder durch ihre Literatur noch durch ihre Architektur, sondern durch ihr Denken.»
Schon 1970 waren also meine Fragen ziemlich präsent. Doch haben wir Dürrenmatts Rede und Aufruf als Leitbild für unsere Kulturfragen und für unser Kulturverständnis miteinbezogen? Haben das Kulturschaffende, Veranstal-terInnen und die Kulturförderstellen überhaupt je gelesen? 40 Jahre ist es her, und wir irren irgendwie immer noch an gleicher Stelle. Und was ist sie denn jetzt, diese Kultur, die wir als so wichtig erachten, dass wir keine Begrifflichkeit dafür finden?
Foto: zVg.
Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 89, Mai 2010