Von Lukas Vogelsang – Ich bin zunehmend verwirrt: Die Mode hat uns bereits so stark im Griff, dass die Menschen darin austauschbar geworden sind. Junge Menschen vor allem sehen alle «gleich» aus. Vielleicht fehlt mir die Differenzierung der Nuancen, vielleicht liegt der Unterschied heute eben mehr im Detail und nicht mehr in der Einzigartigkeit. Doch die Haarschnitte, der Dresscode, alles scheint mir langweilig eintönig zu sein. Das widerspiegelt sich sehr treffend in der Musik. Mir fehlen regelrecht die Hippies und Punks, die «Nichts» und «Alles». An Revolution ist nicht zu denken, das Wort ist inhaltsleer geworden. Und ich empfinde es als lästig, wenn ich dauernd Menschen verwechsle oder vergesse.
Es läuft für mich in die gleiche Entwicklung, wie die Kindererziehungsdebatten, wo die Politik gewillt und versucht ist, einen Grundstein für Retortenkinder zu bauen. Unter dem Deckmantel: Gleiche Rechte für alle, und, vor allem, gleiche (westliche) Intelligenz für alle, wird die menschliche Vielfalt, werden Kulturen niedergewalzt. Wer nicht sozial integriert wurde, ist Feinbild der Politik, der Sozialämter und der Fremdenpolizei. Natürlich auch der Nachbarn, die, weiss ich nicht was «Intellektuelles» über diese Menschen zu wissen glauben. Andersartigkeit ist untrendy, lästig, auffällig in einer Welt, die auffällig unauffällig sein will. Absurd: Dass sich die Jugendlichen heute im Facebook und in all den hirnweichen Web 2.0‑Anwendungen prostituieren, als ginge es täglich darum, einen Sozialwettbewerb zu gewinnen, scheint niemanden wirklich zu stören. Der Schrei, aus der Einsamkeit gerettet zu werden, wird ausgeblendet. Dafür wird die Sprachverblödung bereits als zeitgenössische Antwort und als kreativ benannt.
Irgendwann bauen wir Fabrikhallen, damit wir die Neugeborenen Kinder dort abliefern müssen, damit «alle gleich» nach der obligatorischen Schulzeit heraus marschieren. Ist das die Vorstellung von glücklichem Menschsein? Lausiger Erfolg nach 2010 Jahren. Wir versuchen wieder und immer wieder, die «Rassentrennungen» aufzulösen und jedes Anderssein in unser eigenes Korsett zu zwängen. Damit trennen wir «Rassen» erst recht. Die Welt funktioniert nicht, wenn sie nur einzelne Kulturkriterien zulässt. Das ist nun mal so. Und so belügen sich die Parteien im Pingpong-Verfahren.
Eine regelrechte Sternstunde dazu lieferte SF DRS am 18. Juli in der Sendung «Sternstunde Philosophie». Philosophie im Fernsehen ist zwar in dieser Form etwas fragwürdig, jedoch hat das Thema alles überblendet: Aleida Assmmann, Kulturwissenschaftlerin, sprach über das Gedächtnis. Ihr Buch «Geschichte im Gedächtnis» ist umgehend meine neue Nachtlektüre geworden. Im Fernsehtalk sprach sie darüber, dass der Mensch nur durch die Gemeinschaft Erinnerungen, eine Selbstdefinition kreieren kann. Ein Mensch, der isoliert lebt, verliert das Gedächtnis. Das ist nicht neu, aber wenn wir dies auf die zeitgenössische Monotonie übertragen, erklärt sich in einfacher Weise, warum unsere Vergangenheit, unser Werdegang, unsere Geschichte mehr und mehr vergessen geht, oder wir nichts mehr davon verstehen. Die daraus resultierende Einsamkeit frisst uns regelrecht auf.
Das alleine wäre ein guter Grund, «Kultur» zu zelebrieren, unterstreicht die Wichtigkeit, sie zu fördern, die Notwendigkeit, sie endlich aus dem Unterhaltungsprogramm für Intellektuelle herauszulösen, aus der Vorzeigekunst eines Stadtangebotes zu verabschieden, und der Gemeinschaft zu übergeben. Kultur ist der soziale Leim einer Gesellschaft, ist Treffpunkt und Austauschplattform für Menschliches. Und unsere Kultur überträgt sich durch das Gedächtnis. Wir tun sehr gut daran, wenn wir uns endlich wieder bemühen, uns zu erinnern.
Foto: zVg.
Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 92, August 2010