Von Lukas Vogelsang – So viele mediale Erfindungen: Wir haben den Zugang zum gesamten Weltwissen in unseren Mobiltelefonen, wir haben Zeitungen, TV-Programme, Radiostationen à discrétion, wir haben so viele Freunde im Facebook, die mit uns irgendwas austauschen wollen, können youtuben und auch sonst zu jeder Tages- und Nachtzeit einen Kinofilm schauen – und wenn das alles nicht genügt hat sicher schon jemand eine App für das Nichterfundene erfunden. Mit diesen Mengen sind wir ziemlich überfordert. Mit 150 TV-Kanälen kann sich kein auch nur einigermassen vernünftiges menschliches Wesen unterhalten. Dassselbe ist mit den Bücherbergen, die uns im letzten Jahrhundert erschlagen haben. Doch der neue mediale Angriff trifft unseren Wissensdurst. Das «viel zu viel» hat eine klare Antwort: «Nichts mehr!» – Es geht einfach nicht.
Dabei ist die Folge logisch: Nach einem Informationsbeschaffungszeitalter, kommt das Informationsbearbeitungszeitalter. Es geht schon seit 30 Jahren nicht mehr darum, eine Information zu beschaffen, sondern sie anzuwenden. Ganz wenig Firmen haben dies verstanden und nur Google hat vor wenigen Wochen eindrücklich an die Öffentlichkeit gebracht, was das wirkliche Ziel der Datensammlerei im Netz ist: Google kreiert Roboter, künstliche Intelligenz, aus dem unendlichen Datenstrom. Überraschung! Mit diesem Wissen sind sie ungeschlagen und meilenweit voraus. Damit wird auch verständlich, was Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, der sich öfters in den Schlagzeilen tummelt, vorhat. Leider macht er es im Vergleich zu Google ziemlich dilettantisch. Aber das ist die Zukunft – oder besser: Wir sind nicht mehr weit von unseren schlimmsten Zukunftsvisionen entfernt.
In der Kulturbranche sind wir allerdings weit davon entfernt, diese Erkenntnisse zu verstehen. Mit dem hyperaktiven Kulturprogramm einer Stadt reizen wir nur die letzten Nerven einer im Überdruck stehenden Bevölkerung. Kein Wunder bleiben immer mehr die Besucherränge leer, und die Kinos mit den intelligenten Filmen warten vergeblich auf Publikum. Es hilft einfach nicht, den Rhythmus der Filmvorführungen zu verkürzen, damit jede Woche ein neuer Film läuft – im Gegenteil. Das Kulturprogramm muss entschleunigt werden – paradoxerweise bitte schnell, sonst wird der Schaden länger anhalten. Festival reiht sich an Festival – Konzert an Konzert. Täglich sollten wir uns irgendwie kulturell Unterhalten – und in der Menge sehen wir das Einmalige, das Berührende, das Wichtige nicht mehr. Wenn Kultur zum Massenprodukt verkommt, löst sie sich selber auf. Da wirkt der Aufruf von Christian Pauli, Co-Leiter Dampfzentrale und Präsident vom Verein Bekult, unverständlich hilflos: «Kultur sollte in Bern alltäglicher werden – in den Köpfen und Herzen der Politik und vom Publikum.»
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis sich das Tourismusmarketing auf den neuen Trend hin bewegt: «Hier ist garantiert nichts los!» – was soviel bedeutet, wie: «Hier sind Sie als Mensch gefragt. Als echtes Individuum». So entstünde wieder Raum, wo sich die künstlerischen Elemente entfalten können und wir Zeit haben, diese wahrzunehmen. Momentan bleibt alles zerknittert am Boden liegen.
Klingt das nach einer Menge Blödsinn? Nicht unbedingt. Hauptargument bei Abonnenten-Kündigungen ist: «Ich habe keine Zeit zum Lesen», «Ich habe keine Zeit mehr für Kultur», «Ich habe keine Zeit für das Leben». Dafür kaufen wir Berge an Unterhaltungselektronik, wir freuen uns über jedes elektronische Gadget – sei es auch noch so unsinnig und für das Leben eher hinderlich. Doch in der grossen Menge, wo Menschen nicht mehr menschlich sind, fällt sowas ja nicht auf.
PS: Apropos «jede Menge»: Habe ich schon erwähnt, dass wir jetzt gerade unser 4. Magazin geboren haben und wir ihnen ganz stolz das neue «danse ensuite» (Schweizer Tanzmagazin) anbieten können? Mehr Infos im Heft, auf unsere Webseite oder per Telefon…
Foto: zVg.
Publiziert: ensuite Ausgabe Nr. 95, November 2010