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EDITORIAL Nr. 99: Kassenschlager

Von Lukas Vogel­sang – Bern nähert sich der imposan­ten Kul­tur­ab­stim­mung: Im Mai wird die Bern­er Bevölkerung über die fünf grossen Kul­turin­sti­tu­tio­nen entschei­den. Allerd­ings, wenn ich mir das recht über­lege und sehe, wie unkri­tisch, unmo­tiviert und vor allem wie unüber­legt das Stim­mvolk zur Zeit die Wahlzettel verurnt, so wird gar nichts geschehen. Es wird sich kaum jemand ern­sthaft Gedanken machen, es wer­den keine neue Konzepte ent­wor­fen, keine Diskus­sio­nen ent­facht und über­haupt: Kul­tur­diskus­sio­nen erfüllen nicht mehr die erforder­lichen Unter­hal­tungs­fak­toren und sind abge­sagt. Ob ein JA oder ein NEIN auf dem Wahlzettel ste­ht, inter­essiert nie­man­den wirk­lich. Man nimmt es besten­falls noch zur Ken­nt­nis.

Dass wir fähig sind, gedanken­los JA oder NEIN zu stim­men, haben wir in den let­zten Abstim­mungen genug bewiesen. Kön­nen wir vielle­icht mal die Schallplat­te drehen? Das Lied geht auf die Ner­ven: Erst kommt die Stro­phe über die armen Men­schlein, die so übel poli­tisch unter­drückt wer­den, danach kommt der Refrain, der ICH, ICH, ICH und Prof­it, Prof­it, Prof­it posaunt. Wir schauen nach Ägypten und Klatschen in die Hände – und sel­ber haben wir nicht den Mut, den Fin­ger hochzuhal­ten und eine sim­ple Frage zu stellen. Kopfnick­erkul­tur für eine Kopfnick­er­na­tion.

Es gibt ein «WIR», es gibt ein «UNS» und es gibt ein «Miteinan­der». Wenn wir zusam­men denken, kommt ziem­lich viel mehr raus, als nur küm­mer­liche Brös­meli oder poli­tis­ches Gebrabbel. Wir müssen Kul­tur nicht zum poli­tis­chen Müh­le­spiel verkom­men lassen, son­dern wir kön­nten sel­ber aktiv wer­den: Kul­turk­lubs grün­den, Denkgrup­pen bilden, Kün­stlerkaf­fee­häuser eröff­nen. Aber bitte: Über­lassen wir unsere Kul­tur nicht den Behör­den! Die tick­en ein­fach anders.

Wir brauchen mehr indi­vidu­elle Mei­n­un­gen, unbe­d­ingt. Schliesslich haben wir alle nur erden­klichen Kom­mu­nika­tion­s­geräte und Plat­tfor­men, um diese Mei­n­un­gen auszu­tauschen kreiert. Das Einzige was uns allerd­ings auf diesen Plat­tfor­men in den Sinn kommt ist, die Hosen run­terzu­lassen und zu schreien: «Ich bin ja soooo toll!» – oder dann polar­isieren wir wieder mit links-rechts Sprüchen. Ist dies das Ergeb­nis von ein paar tausend Jahren Kul­tur? Ist das diese Bil­dung, die wir der Kul­tur zuord­nen? Wo ist denn das höhere Kul­turbe­wusst­sein ein­er Gesellschaft? Vor allem: Warum müssen wir als Gemein­schaft über­legen, ob wir die Stadtthe­ater-Orch­ester-Gesellschaft wollen, ob wir Museen wollen oder ein Kul­turzen­trum.

Dabei ist es erst noch falsch: Es geht nicht darum, OB wir diese Insti­tu­tio­nen wollen – es gin­ge darum, WIE wir diese in der Gesellschaft zu führen gedenken. Und genau dies geschieht eben im Mai nicht. Es ist ein kom­plett bürokratis­ch­er und poli­tis­ch­er Leer­lauf um nichts. Aufge­set­zt, blind und blöd.

Ein Beispiel: Früher wur­den in den Städten Feste gefeiert, damit die Bauern, Volks­massen von nah und fern in die Zen­tren fuhren, dort ihr hart erar­beit­etes Geld ver­prassten und noch ein gutes Gefühl dabei hat­ten. Das war ein sozialer Akt, gemein­schafts- und wirtschafts­fördernd. Ein Kreis­lauf, der in sich Sinn machte. Die Städte ver­di­en­ten damit gutes Geld und das Volk war glück­lich. Intel­li­gent. Heute bezahlen die Agglom­er­a­tions­ge­mein­den eben­falls für die öffentlichen Verkehrsmit­tel, sie bezahlen die Park­plätze, sie bezahlen im Restau­rant und im Glücks­fall noch auf der Shop­ping-Tour. Aber sie bezahlen auch, um ein The­ater zu besuchen. Die Gemein­den oder deren Steuerzahlende bezahlen das The­ater gle­ich selb­st durch die Region­alkon­ferenz-Beiträge. Es wirkt abgemagert trau­rig, wenn Hans Lau­ri, ehe­mals Finanzdi­rek­tor und SVP-Mit­glied, Präsi­dent der neuen Stiftung Konz­ert The­ater Bern, in einem Wer­be­text meint, man «han­dle im Auf­trag der Steuerpflichti­gen». Kul­tur ist zur Ware gewor­den, zum Bud­get­posten, zum müh­samen, teuren und unwirtschaftlichen Betrieb. Das Kul­tur­pro­gramm hat mit ein­er Stadt nichts mehr zu tun. Nie reden wir über Inhalte, doch genau damit repräsen­tieren wir unser kul­turelles Sein. Kein Wun­der, dass die Schweiz im inter­na­tionalen Ver­gle­ich ger­ade auch in der Kul­tur schlecht abgeschnit­ten hat. Es ist wahr: Wir haben keinen Bezug zu unserem Selb­st. Wir leben keine Kul­tur. Wir kassieren sie nur.

Fehler­teufelchen:
In der Feb­ru­a­raus­gabe hat sich im Edi­to­r­i­al ein Fehler eingeschlichen. Die Förder­beiträge vom Kan­ton Bern an die annahuber.compagnie sind nicht wie angegeben 360’000 Franken pro Jahr. Die genauen Zahlen sind dieser Aus­gabe auf der Seite 9 unter Men­schen & Medi­en aufge­führt.


Foto: zVg.

Pub­liziert: ensuite Aus­gabe Nr. 99,  März 2011

 

Artikel online veröffentlicht: 1. März 2011 – aktualisiert am 17. März 2024