Von Peter J. Betts — Eifrig lenkt die Aktivität «Rettet den Bund» auch durch elektronisch gestreute Betriebsamkeit, mit Einzahlungsscheinen, Voten Gläubiger usw. wohl davon ab, dass «Der Bund» kaum mehr zu retten ist. Nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch des Geistes. (Ich weiss, Auferstehungen werden gewöhnlich über Jahrtausende hinweg gefeiert.) Aber der «Kleine Bund» vom Samstag, dem 2. Mai 2009, weckt nicht nur den Anschein von Leben, kommt zwar, gegenüber «besseren» Zeiten, umfangmässig eher sehr magersüchtig daher, ist aber vital wie zum Beispiel noch vor fünfzehn Jahren. Kaleidoskop über Macht, Bedeutung, Mechanismen von Sein und Schein. Acht Seiten, sechs Themen (oder nur ein einziges in sechs Facetten?): Viele, viele, viele Schichten, eine Art komprimierter Flachkosmos. Ein eindrücklich grosszügiges Layout: Hohe Dichte von Gehalt und Aussage — und Raum. Ein Fanal? Rauchzeichen? Schlusszeile von «Menschliches Elende», Gryphius: «Was sag ich? Wir vergehn wie Rauch von starken Winden.» Inhalt einer Wochenbeilage, über den man tagelang nachdenken kann, Stoff für fast unendlich viele Assoziationen. Bereits auf der ersten Seite eine wunderbare, grossformatige Farbfotografie, die alle Vorzüge und Merkmale einer hervorragenden Schwarz-Weiss-Aufnahme hat: Das Spiel mit Licht und Schatten, Innen und Aussen, die Räumlichkeit, die perfekte Komposition voller Bewegung und Statik, die Kunst einer wohl ausgesuchten, aber ungestellten Szene – und die Farbigkeit tötet weder Aussage noch Intensität. Einst und jetzt in Personalunion. In einem einzigen Bild die Zusammenfassung des Essays, in das man auf den folgenden drei Seiten eintauchen wird: «Kleine Welt am Abgrund.» Wer kann so meisterhaft die Tugenden der Schwarz-Weiss-Fotografie mit den Möglichkeiten der Farbfotografie verbinden? Aber auch allein schon der Titel des Essays öffnet Raum für Spekulationen. Kann eine Welt am Abgrund gross sein? Die Welt der Mammute, einst gross, wirkt aus der heutigen Optik klein – in ein paar Jahrhunderten wohl auch jene der heutigen Elefanten. Die Welt des Investmentbankings — klein oder nur am Abgrund, und das, aus welcher Optik? Die Welt ihrer Kindheit bei ManagerInnen und Politgurken klein und schon im Abgrund verschwunden: Was war ihnen wichtig, als sie noch echte Seifenblasen bliesen? Auf der ersten Textseite, über alle fünf Spalten hinweg und mehr als einen Drittel der Höhe einnehmend: wieder ein solches Bild. Wunder der Farbe mit dem Zauber von Schwarz-Weiss verschmolzen: Spiegelungen, Raum, Bewegung; Kleines im Vordergrund gross, Durchsicht als Trennung erlebbar. Nie zuvor habe ich Farbfotos von Hansueli Trachsel gesehen. «So etwas Schönes kann gar nicht zu Ende sein»: Der Text von Regula Tanner stellt dieser Behauptung, vielleicht entspricht sie ja unser aller geheimer Hoffnung, die bittere Realität oder zumindest deren Wahrscheinlichkeit gegenüber. Sie schreibt grossartig; gekonnt, mit nachvollziehbarer Empathie, aber ohne Sentimentalität: bildhaft, realistisch und mit Symbolkraft zugleich. Stellvertretend für vieles, geht es in diesem Essay um einen untergehenden Bubentraum, die Pleite der Spielzeugfirma Märklin. Nicht nur die Kindheit ist bei uns heute akut bedroht. «Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, / Dass das Schöne vergeht, dass das Vollkommene stirbt.» (Schiller, «Nänie») Vielleicht ist gerade das der Grundtenor in diesem «Kleinen Bund»? Martin Alioth beschäftigt sich in seiner Kolumne unter «Weite Welt» mit der stumpfsinnigen Trendsucht, dem auch Regierungsstellen immer wieder erliegen. Diesmal betrifft es Irland, wo die Regierung siebenhundert teure, mittlerweile zuverlässig als unbrauchbar erkannte Computer in teuren Lagerhäusern vergammeln lässt, wobei sich die jährlichen Lagerkosten allein auf über eine Million Schweizerfranken belaufen: Man löst heute die Aufgaben, die die kostbaren Geräte nicht zur Zufriedenheit lösen konnten, wieder mit dem Bleistift. «Lang lebe der Bleistift!», lautet der Titel. Alexander Sury geht dem grausamen Spiel (?) und den Kriterien nach, die Publikumsgunst und Kurzlebigkeit des anscheinend Begehrenswerten bestimmen. In «Die Stunde der Warenempfindung» zeichnet er die heutige Version von «Brot und Spiele» für die Massen. Lead: «Rührung, Tränen, Jubel. Ein märchenhafter Fernsehauftritt. Alle lieben das hässliche Entlein Susan Boyle. Die Letzten werden die Ersten sein.» Sury schreibt zum Beispiel – mit Ausblick auch auf finalen Ruin – auch über Paul Potts, dessen «Stern noch nicht verglüht» sei, und über Michael Hirte. Der «Underdog» Potts hat seine akademische Ausbildung übrigens mit der Diplomarbeit über die Theodizee-Frage abgeschlossen… Ist es nicht einfach das Schöne, sondern auch das Geschönte, das stirbt? Und wer wird noch dabei ans Weinen denken? Göttinnen? Götter? In Peter Schiblers Mundart-Kolumne lesen wir über das unverantwortliche, dafür hochgradig blöde Treiben auf Blog- oder Leserbriefredaktionen – Könige, die über Sein oder Nichtsein entscheiden – wie Finanzkonsortien zum Beispiel über die Existenz(berechtigung) lokaler Zeitungen. «Am 27. August 1991 starb Stauffer mittellos und einsam im Haus eines Freundes am Rande der Villa Vera. Heute ist sie von der wuchernden Stadt bis zur Unkenntlichkeit eingeschlossen. Der Glamour hat sich längst aus der Bucht verzogen, die zum Auffangbecken des grösstenteils ungereinigten Abwassers der 1,5‑Millionen Stadt degeneriert ist.» So beginnt der letzte Abschnitt von Alex Gertschens Essay über «Mister Acapulco aus Murten». Sein Lead lautet: «Er ist Sohn eines Velo- und Nähmaschinenhändlers, als er seine Heimat verlässt. In Berlins Tanzpalästen wird er gefeiert. Dann landet er durch die Laune eines Filmregisseurs in einem mexikanischen Fischernest. Das Nest heisst Acapulco, und er macht es zur glamourösen Adresse für den internationalen Jetset. Heute wäre Teddy Stauffer, der grosse Swing-Musiker, hundertjährig geworden. Eine Spurensuche.» Aufstieg und Fall. Alex Gertschen schildert ebenfalls mit Empathie und ohne Sentimentalität Wachstum, Blüte und Zerfall. Die erste Wochenendbeilage des «Bund» in diesem Wonnemonat eine Spurensuche? Macht uns nicht erst die Vergänglichkeit die Blume wertvoll? Sagt man nicht, bevor ein Kirschbaum stirbt, präsentiere er sich noch einmal in schönster Blütenpracht? Wir können uns über den prächtigen Auftritt des alten Baumes anfangs Mai freuen, wohlwissend, dass kaum Rettung möglich ist. Aber auch so bleibt uns der Wunsch nach seinem eigentlich auch für uns existentiell notwendigen Nachwuchs. Kunststoffblumen sind allerhöchstens dekorativ. Auf der letzten Seite dieses «Kleinen Bundes» finden sich acht Aufnahmen vom Berner Fotografen Bernhard Haldemann. Unter dem Titel «Von Stahlhelmen und Holzköpfen» werden Bilder von acht Objekten des Künstlers Walter Geissberger (auch bekannt unter dem Namen »Capramontes») gezeigt. Eindrückliche Inszenierungen: Zum Beispiel ein Velosattel, Schuhleisten und ein paar Kleinigkeiten werden zum lachenden Rehkopf; Radsattel, Schutzbrille, Kopfhörer, Mützenrelikt auf halber Autoradabdeckung erinnern an Piloten des Blitzkrieges. Und so weiter. Bildkommentar: «Aus Unrat, Sperrmüll und Fundstücken formt Walter Geissberger Gesichter, die nicht nur das sorglose Konsumverhalten unserer Zeit spiegeln, sondern auch Anekdoten erzählen auf der Schutthalde der Geschichte…» Diese Beilage erinnert, dass man einst stolz sein konnte, für den «Bund» zu schreiben. Die ganze Beilage: ein vorgezogener Nachruf? Der «Nänie» letzte Zeilen: «Auch ein Klaglied zu sein im Munde der Geliebten, ist herrlich, / Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.»
Foto: zVg.
ensuite, August 2009