Von Luca D’Alessandro — im Gespräch mit Michael Zisman: Unter der kundigen Leitung von Vater Daniel Zisman, begann der argentinisch-schweizerische Bandoneonist Michael bereits in jungen Jahren, in namhaften Tangoformationen mitzuwirken. Heute ist er selbst als Solist und Bandleader unterwegs, und in zehn Projekten engagiert. Sein Repertoire umfasst Latin‑, Tango‑, Freestyle- und Jazzkompositionen. Ein breites Spektrum: Riskiert man da nicht, den Überblick zu verlieren? «Nein, ich fühle mich wohl, wenn ich meine Ideen ausleben kann», sagt Michael Zisman im Interview.
Michael Zisman, deine Arbeit verteilt sich auf zahllose Projekte. Jedes einzelne hat eine eigene Identität… Wer bist du?
(lacht) Diese Frage lässt sich auf die Schnelle nicht beantworten. Ich habe das Gefühl, ständig auf der Suche zu sein.
Wonach?
Nach dem Weg – sowohl als Musiker als auch als Mensch. Ich bin mit dem Jazz und dem Tango aufgewachsen, möchte mich aber auf keines der beiden Genres beschränken. Ich suche den Kontext dazwischen und drum herum. Wenn ich mich auf ein einziges Projekt fixieren würde, wäre mir das schon lange zu eintönig.
In der Presse wurdest du wiederholt als Nachfolger von Astor Piazzolla gehandelt. In Anbetracht der Fülle an Projekten, in denen du engagiert bist, scheint diese Definition etwas gar eng.
Sie ist nicht so eng, wie man es auf den ersten Blick vermuten könnte: Piazzolla hat sich selbst stark geöffnet und nach reiflicher Recherche eine ganz eigene Sprache gefunden. Er bewegte sich in diversen Genres, bevor er sich festlegte: im traditionellen Tango, im Tango Avantgarde und sogar in der klassischen Musik. Ich dagegen tue mich schwer, einen Zielhafen anzusteuern.
Als junger Musiker mit Potenzial hast du dazu noch genügend Zeit …
… und im Moment habe ich auch nicht vor, die Zahl der Projekte zu reduzieren. Ich werde meine Tätigkeiten differenziert weiterführen, bis ich ein Zeichen sehe, das mir die Richtung vorgibt. Aber das wird vermutlich noch nicht morgen passieren.
Das Publikum wird deinen Weg mitgestalten. Wie hat sich die Nachfrage in den vergangenen Jahren verändert?
Das Interesse am Tango ist relativ stabil geblieben, allerdings sollten wir zwischen dem Tangomusik- und dem Tangotanzboom unterscheiden: Das Publikum, das die alten Tangos und die Nuevotangos hört, hat wenig mit den Leuten gemeinsam, die den Tango tanzen.
Was verstehst du unter Nuevotango?
Für mich ist es ein Genre, das die Grenzen zum Jazz und zur Klassik durchbricht.
Spielt da die Elektronik auch mit?
Nicht wirklich. Elektrotango ist doch etwas ganz Anderes. Ich selbst habe mich da noch nicht herangewagt.
Siehst du im Elektrotango eine Chance oder eine Gefahr?
Eine Gefahr ist er sicher nicht. Die Idee ist an sich spannend, allerdings habe ich bis jetzt noch nichts gehört, das mich wirklich überzeugt hat. Produzenten aus der Elektronikbranche, die sich mit Elektrotango befassen, tendieren dazu, fast ausschliesslich mit Klischees zu arbeiten, und zu wenig mit musikalischem Idealismus.
Wie das?
Ihnen geht es vor allem darum, Musik zu machen, die sich gut verkaufen lässt. Die Authentizität bleibt dabei auf der Strecke. Es fehlt die Avantgarde.
Apropos Authentizität: Du lebst mehrheitlich in der Schweiz, schaffst es aber, das argentinische Lebensgefühl authentisch rüber zu bringen. Wie geht das?
Gute Frage. Ich denke, eine Antwort lässt sich herleiten. Ich bin Hand in Hand mit dem Tango aufgewachsen – mein Vater hat mich das Handwerk gelehrt. Vom Lebensgefühl der Porteños wurde ich zwar nie angesteckt, trotzdem bin ich in der Lage, authentisch zu wirken, da ich meinen eigenen Weg gehen und den Tango vom Prinzip her nachfühlen kann.
Vom Prinzip?
Ja, der Tango ist im Zusammenhang mit den Migrationsströmen nach Südamerika entstanden. Europäer suchten in der Ferne nicht nur das wirtschaftliche Glück, sondern auch eine neue Identität. Aus diesem Konflikt heraus ist der Tango als Lebensgefühl entstanden. Als Sohn eines argentinischen Vaters, der in der Schweiz lebt, habe ich einen ähnlichen Konflikt erlebt – allerdings in umgekehrter Richtung. Ich lebe fernab meiner musikalischen Heimat Argentinien, und muss hier in der Schweiz mein Lebensgefühl suchen.
Stimmt dich das traurig?
Nein, überhaupt nicht.
Der Tango ist aber schwermütig.
Der Tango hat tatsächlich etwas Trauriges. Aber er ist nicht nur das. Insbesondere im Nuevotango gibt es Nuancen, die sich vom melancholisch-traurigen Moment abheben. Was sicher ist: Der Tango ist eine emotional sehr starke Musik.
Diskographie (Auswahl)
Swiss Jazz Orchestra and Michael Zisman: Close Encounter (Mons / Sunny Moon)
Michael Zisman: Mi Bandoneón (Zytglogge)
Zisman / Fulgido: Fueye Y Viola (z‑sharp Records)
Foto: zVg.
ensuite, Oktober 2010