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Ein Landeplatz für Ideen

Von Guy Huracek — Das Komik­er­paar Urs Wehrli und Nad­ja Sieger sprechen über klas­sis­che Rol­len­bilder, neue Medi­en, weshalb Ideen Nie­man­dem gehören kön­nen, und dass Jugendliche vor allem mit ihren Hor­mo­nen beschäftigt sind – in einem Monat touren Ursus und Nade­schkin durch die Schweiz.

Jugendliche und The­ater? Auf­führun­gen wie «Andor­ra» von Max Frisch oder «Der Besuch der alten Dame» von Friedrich Dür­ren­matt sind für viele The­ater­lieb­haber ein Muss. Doch fragt man Jugendliche am Tre­ff­punkt «Loe­beg­gä» in Bern nach diesen Auf­führun­gen, bekommt man oft ein: «Hä?», oder noch öfter die Gegen­frage: «Was wosch du Siech?!» zur Antwort.

Das Komik­er­paar Ursus und Nade­schkin wun­dert sowas jeden­falls nicht: «Es ist die schwierig­ste Phase des Lebens», sagt Nad­ja Sieger, Urs Wehrli nickt. Denn die 15 bis 25-Jähri­gen seien vor allem mit ihren Hor­mo­nen beschäftigt, und inter­essierten sich weniger fürs The­ater. Das sei schon immer so gewe­sen.

Es ist über 30 Grad, die Sonne scheint unbarmherzig auf die grosse Dachter­rasse, zwei junge Katzen schlen­dern um uns herum, und obwohl wir mit­ten in der Stadt Zürich sind: kein Hupen, kein Reife­qui­etschen, und kein grelles Tram-Klin­geln. Nad­ja Sieger sagt: «Das The­ater the­ma­tisiert halt weniger The­men für und über die Jugendlichen». Urs Wehrli ergänzt: «Aber Jugendliche lassen sich dur­chaus fürs The­ater begeis­tern». Beispiel­sweise haben Ursus und Nade­schkin einen Kol­le­gen aus Deutsch­land, der über die Inter­net­plat­tform YouTube sein Pup­penthe­ater ver­bre­it­ete. Ein Bomben­er­folg: Tausende Jugendliche wollen nun in sein The­ater. «YouTube ist auch für uns eine Super-Wer­be­plat­tform», sagt Urs. Zuvor seien die Bei­den skep­tisch gewe­sen, hät­ten sich gefragt, weshalb man sich im Ton­stu­dio Mühe geben muss, wenn Jugendlich schlechte Qual­ität ins Inter­net laden. «Irgend­wann haben wir gedacht, warum laden nicht wir HD-Qual­ität auf Youtube?», erzählt Urs. Man kön­nte sowieso nicht kon­trol­lieren was im Inter­net kur­siert; aber so könne man wenig­stens qual­i­ta­tiv gute Videos anse­hen. Ähn­lich wie online Video­plat­tfor­men hat auch das Fernse­hen eine enorme Streuwirkung. Urs sagt dazu: «Wir machen pro Jahr rund sieben Vorstel­lun­gen fürs Fernse­hen. Dage­gen machen wir um die 100 The­ater­pro­duk­tio­nen. Die meis­ten Leute ken­nen uns aber nur durchs Fernse­hen.»

Nad­ja und Urs sind seit über 22 Jahren zusam­men. Nicht als Liebe­spaar, son­dern als Komik­er­duo. Den­noch wer­den sie oft in das Schema Liebe­spaar gerückt. Urs erk­lärt: «Wenn Mann und Frau auf der Bühne ste­hen und miteinan­der einen Dia­log mit viel Rei­bun­gen führen, ist es Fut­ter für Leute, die hin­ter unserem Spiel sofort eine Liebes­beziehung ver­muten.» Stören tut es das Komik­er­duo jeden­falls nicht, denn es lasse bei den Leuten viel mehr Phan­tasie zu, und das mache es span­nend. «Dass ich eine Frau bin, heisst aber noch lange nicht, dass ich keinen Mann spie­len darf», fügt Nad­ja an. Im Übri­gen wech­seln die Zwei ihre Rollen auch beim Proben. «Zum Beispiel wenn wir bei ein­er Szene nicht mehr weit­er kom­men», sagt Nad­ja. Die Komik­erin ist der Mei­n­ung, dass sich die Leute durch einen Rol­len­tausch inspiri­eren lassen kön­nten. Sie ergänzt: «Es gibt viele neue Lösun­gen, wenn man plöt­zlich in die andere Haut schlüpft». Sie wirft die Frage auf: «Was ist ein mod­ern­er Mann? Was ist eine mod­erne Frau?» Alle woll­ten es gut machen und sich den Haushalt aufteilen, aber funk­tion­ieren würde es irgend­wie nicht. Nade­schkin sieht in der heuti­gen Gesellschaft die Prob­leme vor allem in Rol­lenkon­flik­ten. «Jed­er will richtig Kar­riere machen, und trotz­dem eine Fam­i­lie haben. Doch Män­ner kön­nen nicht schwanger wer­den, der Ball liegt also bei der Frau, und so gibt es ein Ungle­ichgewicht. Aber dieses Ungle­ichgewicht gibt es nur weil wir neuerd­ings behaupten, Mann und Frau seien gle­ich.»

Ein kurz­er Moment der Ruhe ist eingekehrt. Urs star­rt auf die spröde Holztis­ch­plat­te und scheint in seinen Gedanken ver­tieft zu sein. Nad­ja reibt sich ihre Hände, ihr Blick schweift umher – es scheint fast so, als wäre sie zum ersten­mal auf der Dachter­rasse. «Ich habe vor kurzem eine span­nende Unter­suchung gele­sen», sagt sie. In der Unter­suchung sei fest­ge­hal­ten, dass es viele Frauen gibt, vor allem solche in der Pubertät, die ihren Beruf nach einem Kinder­wun­sch aus­suchen. «Sie haben 100 Prozent Möglichkeit­en, stre­ichen aber schon mal die 60 Prozent raus, die nicht mit ein­er Fam­i­lie zu vere­inen sind.» Die Komik­erin – sie ist im Übri­gen schwanger, und muss ab Okto­ber eine «Baby­pause» ein­le­gen – hat ihren Beruf nicht nach einem möglichen Kinder­wun­sch aus­ge­sucht. «Ich habe das gemacht, was ich wollte», erzählt Nad­ja. Das The­ma Gle­ich­berech­ti­gung sei für sie schwierig, sie mache sich viele Gedanken darüber: «Wir sprechen seit 30 Jahren über die Gle­ich­stel­lung zwis­chen Mann und Frau. In der The­o­rie haben wir viel gemacht. Doch in der Prax­is haben wir wenig erre­icht.»

Solche und ähn­liche gesellschaftliche The­men find­en sich in vie­len Pro­duk­tio­nen von Ursus und Nade­schkin wieder. Und die Schweiz bietet dafür viel Zünd­stoff, sagen die Bei­den. «Komik funk­tion­iert über Regeln, die man bricht», so Nad­ja. Der Lach­er komme dort, wo etwas nicht so läuft, wie man es erwarten würde. «Da die Schweiz so viele Regeln hat, gibt es für uns natür­lich ganz viel Fut­ter», erk­lärt sie. Braucht es also gesellschaftliche Kon­flik­te, damit die Zuschauer lachen? Urs antwortet: «Ja». Es brauche Gren­zen, die über­schrit­ten wer­den kön­nen, und Span­nun­gen – dann hät­ten die Bei­den eine Aus­gangslage für ihre Auf­führun­gen.

Ursus und Nade­schkin find­en ihre Inspi­ra­tion nicht nur in der Gesellschaft. Urs sagt: «Alle haben Ideen. Ideen klopfen immer wieder an die Haustüre. Bloss ist meis­tens nie­mand zu Hause um sie here­in zu lassen…». Man müsse eben bere­it sein für die Inspi­ra­tion. Den­noch: Um die Unberechen­barkeit von Ideen zu verdeut­lichen, sagt er, der Ein­fall zu seinem Buch «Kun­st Aufräu­men» (2002) sei ihm eines Mor­gens auf dem Weg zum Bäck­er gekom­men, als er an den Ohren fror. «Ideen kön­nen auch sehr anstren­gend sein», sagt der Komik­er. Ideen seien nicht fixfer­tig, son­dern oft auch Umwege und manch­mal wür­den sie sog­ar ner­ven. Urs erzählt von Leuten, die ein­er geregel­ten Arbeit nachge­hen, bei der es ungün­stig wäre, «den Kopf für neue Ideen aufzu­machen». Denn solche Gedanken wären, wenn sie nicht ver­fol­gt wer­den dür­fen, nur störend, und wür­den den All­t­ag kom­pliziert­er machen. Nad­ja fügt an: «Aber die Grund­vo­raus­set­zung für Neues ist immer die Zeit». Wenn ihr Jemand erzählt, er hätte keine Ideen, dann glaubt Nad­ja ihm nicht. «Jed­er hat neue Ideen, wenn er sich Zeit für neue Ideen nimmt!» Ursus und Nade­schkin machen dazu ein Beispiel – ein Muster­beispiel, wie es in einem Kinder­buch ste­hen kön­nte: «Men­schen sind wie Gläs­er, die mit per­sön­lichen Geschicht­en gefüllt wer­den. Mal ist die Geschichte rot, mal ist sie grün, doch wenn zu viele Geschicht­en im Glas düm­peln, wird alles braun. Und dann spürt man nichts mehr. Man muss also ab und zu die Far­ben ausleeren, und dabei keine Angst haben, dass die Far­ben nicht wieder kom­men. Wenn man die Farbe Rot aus dem Glas kippt, kommt sie schon wieder zurück, aber vielle­icht kom­men vorher noch die Far­ben Grün und Blau». Die Bei­den sind sich einig: Man muss die Far­ben im Glas immer und immer wieder auss­chüt­ten. Doch wie kann man sich sel­ber leeren? Nad­ja tut dies beispiel­sweise, indem sie Sport treibt, oder, etwas weniger anstren­gend, mit Träu­men. «Viele Leute schlafen zu wenig, wachen dann auf und sind immer noch ‹voll›», sagt Nade­schkin. Es sei daher nicht ver­wun­der­lich, dass der Kör­p­er irgend­wann kol­la­biere. «Der Kör­p­er ist der Lan­de­platz für die Ideen. Und der Lan­de­platz muss frei ste­hen – die Flieger von vorher müssen weit­er und weg sein, damit neue Flugzeuge lan­den kön­nen», erk­lärt die Komik­erin, während sie mit den Hän­den herum­fuchtelt. «Das bedeutet aber auch, dass Ideen nie­man­dem gehören», fügt Ursus an, und ergänzt: «Wir waren noch nie beson­ders stolz auf eine Idee von uns». Eine Idee sei nur die Inspi­ra­tion aus ein­er bere­its beste­hen­den Idee, und man dürfe nicht vergessen: «Wenn man eine Idee hat, muss man auch noch etwas daraus machen kön­nen».

Wer sehen will, was Ursus und Nade­schkin aus ihren Ideen gemacht haben, kann dies im Sep­tem­ber tun. Die Zwei touren mit ihrem neuen Pro­gramm ZUGABE durch die Schweiz.

Foto: zVg.
ensuite, August 2010

 

Artikel online veröffentlicht: 10. November 2018