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Ein Mistvieh hilft dem anderen

Von Alexan­dra Port­mann — Ödön von Horváths Dra­men wie «Kasimir und Karo­line», «Ital­ienis­che Nacht» und «Geschicht­en aus dem Wiener Wald» sind bere­its oft im europäis­chen Raum insze­niert wor­den. Nun ist sein im Ver­gle­ich zu den Dra­men unbekan­nter Roman «Sech­sund­dreis­sig Stun­den» in der Regie von Mag­dale­na Nadol­s­ka zum ersten Mal auf Schweiz­er Büh­nen zu sehen. Am 12. Jan­u­ar war Pre­miere in der Klibüh­ni in Chur, und Anfang Feb­ru­ar ist das Pro­jekt im Tojo The­ater in Bern zu Gast.

Agnes Pollinger und Eugen Rei­thofer, zwei attrak­tive Arbeit­slose, ler­nen sich ganz zeit­gemäss in der Warteschlange des Arbeit­samtes ken­nen. Schnell find­en sie Gefall­en aneinan­der und kom­men sich näher. Das verabre­dete Spazier­gan­gren­dezvous am näch­sten Tag kommt jedoch nie zu Stande, denn Agnes ver­set­zt Eugen zu Gun­sten von Har­ry. Har­ry – die Hoff­nung des Eishock­eys – und vor allem sein Sport­wa­gen gewin­nen klar in Agnes’ Augen gegenüber Eugen und seinen naiv­en Träu­men von einem Hotel in Afri­ka. Wer will schon ein imag­inäres Hotel anstelle eines realen Porsche? So vielver­sprechend auch der Aus­flug zum Starn­berg­er See begonnen hat, umso bit­ter­er ist sein Aus­gang. Nach­dem Har­ry die Entlöh­nung für das Wiener Schnitzel von Agnes auf dem Rück­sitz seines Autos einge­fordert hat, lässt er sie mit­ten im Wald sitzen und zu Fuss nach Hause gehen. Wider Agnes’ Erwarten wird aus der lang ersehn­ten Spazier­fahrt nun doch ein «Spazier­gang». Am näch­sten Mor­gen erre­icht sie erschöpft ihr Haus, wo sie Eugen mit der guten Nachricht erwartet, ihr eine Arbeit besorgt zu haben. Ganz nach dem Mot­to «Ein Mistvieh hil­ft einem anderen» ist er ihr nicht böse, ihn am Vor­abend ver­set­zt zu haben. Zur erwarteten Liebesgeschichte kommt es aber nicht, denn dann ist das Stück zu Ende.

Obschon Horváths Roman im Jahr 1928 spielt, behan­delt er die heute immer noch aktuellen The­men wie Arbeit­slosigkeit, Wirtschaft­skrise und Krieg. Die etwas ironi-sche, aber den­noch liebevolle Sprache Horváths beschreibt eine tragis­che Welt, der sowohl mit Humor als auch mit Ernst zu begeg­nen ist. Denn das, worüber leicht­fer­tig gelacht wird, zeigt oft die un-
geschmink­te Real­ität, und was ernst scheint, ist eigentlich komisch.

Die Pro­duk­tion «Sech­sund­dreis­sig Stun­den» stellt sich ein­er­seits der Her­aus­forderung ein­er Schweiz­er Erstauf­führung, ander­er­seits vor allem der Drama­tisierung eines Romans. Die Stück­fas­sung stammt von der Regis­seurin selb­st. «Vielle­icht beste­ht eine Schwierigkeit der Romanadap­tion darin, die Sprach­in­ten­sität von Horváths Text auf die Bühne zu trans­portieren. Denn eine Adap­tion stellt immer eine Verdich­tung der Geschichte dar, bei der viele Neben­schau­plätze ver­loren gehen», so Nadol­s­ka. Trotz der Fokussierung auf eine Geschichte find­et die Insze­nierung span­nende Lösun­gen für Horváths vielfältiges Sprachenge­flecht. Im Rah­men des Pro­jek­ts wird ausser­dem mit ver­schiede­nen Schulk­lassen zusam­mengear­beit­et. Die Schüler gehen dabei selb­st den Schwierigkeit­en ein­er Romanadap­tion auf den Grund. In Gesprächen mit den Pro­duk­tion­s­mit­gliedern kön­nen sie ihre eige­nen Ideen zur Drama­tisierung von Horváths Text präsen­tieren und Fra­gen zum Stoff der Insze­nierung stellen.

Das Büh­nen­bild beste­ht aus mehreren Wäscheleinen, die mit ver­schiede­nen Klei­dungsstück­en und Req­ui­siten voll­ge­hängt sind. Die drei Schaus­piel­er (Felic­i­tas Hele­na Hey­er­ick, Kris­han Kro­ne, Michael Glatthard) wech­seln zwis­chen rund zwanzig Fig­uren und mehreren Spielebe­nen. Vir­tu­os bal­ancieren sie zwis­chen Fig­ur und Erzählhal­tung, natür­lichem und boule­vardeskem Spiel­stil sowie Live-Musik und Ruhe. Blitzar­tig wird aus dem Erzäh­ler eine Bud­dhas­tat­ue oder das Foto ein­er achtköp­fi­gen Fam­i­lie und aus ein­er Wäscheleine mit ein­er Taschen­lampe ein Auto. Auch wenn gewisse Fig­uren nur kurz auftreten, so erzählt jede von ihnen ihre eigene Geschichte. Fan­tasievoll wer­den vom Ensem­ble die Spielmöglichkeit­en des abstrak­ten Büh­nen­bildes aus­gelotet. Die live gesun­gene und gespielte Musik, die von Okto­ber­festschlagern bis zu franzö­sis­chen Chan­sons reicht, ver­set­zt den Zuschauer in die tragisch-komis­che Welt von Agnes und Eugen. Trotz des bun­ten Treibens auf der Bühne ste­ht in der Insze­nierung immer das Erzählen ihrer Geschichte im Vorder­grund, ein­er aus dem Leben gegrif­f­e­nen Geschichte, die berührt.

Foto: zVg.
ensuite, Feb­ru­ar 2010

Artikel online veröffentlicht: 4. Oktober 2018