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Ein Platz an der Sonne

Von Thomas Kol­her — Alte Hasen der Auto­branche wis­sen: Jet­zt haben Cabrios wieder Sai­son. Nicht dass die Aus­sicht auf Nässe, Kälte und schlim­mere win­ter­liche Unbill den Wun­sch nach auto­mo­bil­er Offen­heit fördert. Aber die Ferien wirken in den Köpfen der poten­tiellen Käufer nach. Diese Nach­we­hen pul­verisieren jegliche Ratio­nal­ität beim Autokauf.
Nicht jedem ist es gegeben, eine Harley David­son zu bändi­gen. Die Zweirad-Leg­ende ist zwar bequem wie Omas Sofa. Aber mit ihren rund drei­hun­dert Kilo­gramm Leergewicht ist sie erhe­blich unhan­dlich­er. Auf kurviger Strasse fühlt sie sich so wendig an wie ein nass­er Schwamm.

Und doch: Was gibt es cool­eres, als auf solch ein­er Höl­len­mas­chine über die Ufer­prom­e­nade von Ascona zu bret­tern? Eigentlich nichts. Aber wenn sich der Motor­rad­fahrer aus dem Sat­tel schwingt, lei­det der Glam­our gewaltig. Bei Motorad­fahrerin­nen mag das ja noch ange­hen. Wenn sie den Helm abnehmen und sich den Staub der Über­land­strasse aus der Mähne schüt­teln, sind ihnen Neid und Bewun­derung der Müs­sig­gänger im Boule­vard-Café gewiss. Anders der Motor­rad­fahrer: Er ist in sein­er Led­erkom­bi auf der Prom­e­nade so fehl am Platz wie ein Wrestler in der Chefe­tage ein­er Pri­vat­bank. Tre­f­fend drückt das der Thriller­autor Andy McNab aus. Sein Haude­gen-Held Nick Stone erk­lärt dem Leser in einem sein­er Aben­teuergeschicht­en: «Ich will nicht auf mein­er Ducati nach Lon­don fahren. Son­st muss ich dort rum­laufen, gek­lei­det wie Judge Dredd.»

Aber es gibt Alter­na­tiv­en: das Cabrio. Wer damit vor­fährt, kann dur­chaus Leinen­ho­sen und Sei­den­hemd tra­gen. Krach­led­erne Schutzk­lei­dung ist über­flüs­sig; der Glam­our bleibt beim Pos­er-Auftritt unbeschädigt erhal­ten. Nur: Kaum jemand besitzt ein Cabrio. Logisch. Schliesslich sind Son­nen­t­age für Fahrten ohne Dach über dem Kopf auf der nördlichen (ergo falschen) Seite der Alpen eher rar – auf das ganze Jahr hin betra­chtet.

Hinzu kommt der Nutzw­ert des Cabrios, der recht niedrig bemessen ist. Der brave Fam­i­lienkom­bi hat deut­lich mehr zu bieten. Beim Zügeln passt sog­ar Omas Sofa in den Lader­aum. Dafür liegt der «Dream Appeal» der Fam­i­lienkutsche arg im Keller. Genau da set­zt die Nach­bren­ner-Wirkung der Ferien ein. Der Traum von Dolce Vita oder von der Erotik des Stran­dlebens lässt sich nun mal nicht mit dem Kom­bi kom­binieren. Und auf der Prom­e­nade macht er auch nicht viel her. Dream Appeal mit gross­er Heck­klappe? Fehlanzeige.

In den 1950er- und 1960er-Jahren verkauften sich namentlich amerikanis­che Autos vor allem über Hochglanzprospek­te. Logisch: Inter­net gab es noch nicht. Deshalb verteil­ten die Auto­händler diese aufwendig aufgemacht­en Pracht­prospek­te freigiebig an alle Inter­essentin­nen und Inter­essen­ten. Und auf den Titel­seit­en dieser meist 16-seit­i­gen Kat­a­loge mit dem gesamten Pro­gramm des jew­eili­gen Her­stellers prangte nicht ohne Grund fast immer ein Cabrio. Das Cabrio war damals, was das Coupé später wurde: Das Glam­our-Flag­gschiff eines jeden ern­stzunehmenden Auto­her­stellers. Wer sich damals in der besseren Gesellschaft tum­melte (oder tun wollte als ob), fuhr ein Auto mit Falt­dach – allen voran die Reichen oder Mächti­gen. Film­stars und andere Promi­nente fuhren grund­sät­zlich oben ohne. Schliesslich waren sie nur im Cabrio sich­er vom Trot­toir aus zu erken­nen. Um Paparazzi küm­merten sie sich noch wenig. Jede und jed­er wusste: Klap­pern gehört zum Geschäft. Unver­schämte oder gar hem­mungs­los lügende Klatsch-Pos­tillen gab es noch kaum.

Der Papst fuhr einen Mer­cedes 600 – mit kleinem Cabri­o­dach über der hin­teren Sitzbank. Der japanis­che Kaiser besitzt noch heute ein Cabrio des Typs Rolls Royce Cor­niche als Staatswa­gen. Viele andere Poten­tat­en tun es ihm gle­ich – von Charles de Gaulle bis Fürst Rainier. Dabei hat das Cabrio in Poli­tik­erkreisen seit den 60er Jahren deut­lich an Pres­tige ver­loren. Denn es hat erhe­bliche Nachteile, die bei dieser Klien­tel von Bedeu­tung sind. So sass etwa US-Präsi­dent John F. Kennedy in einem Lin­coln Cabrio, als er am 22. Novem­ber 1963 in Dal­las (Texas) erschossen wurde. Nervöse Geheim­di­en­stleute hat­ten ihn drin­gend gebeten, das kugel­sichere Plex­i­glas­dach mon­tieren zu lassen. Doch davon wollte der Präsi­dent nichts wis­sen. So ist es nicht erstaunlich, dass die amerikanis­chen Präsi­den­ten sei­ther grund­sät­zlich nur in gepanz­erten Lim­ou­si­nen durchs Land rollen.

Den Fam­i­lien­vater auf der Prom­e­nade von Ascona küm­mert all dies wenig. Er träumt inbrün­stig vom Cabrio – genau wie viele Frauen, die sich ins­ge­heim ohne Dach vorüber gleit­en sehen. Die Mode, sich unter­wegs die Haare zu einem Chignon hochzu­binden, kommt ihnen dabei zupass. Wer die Haare im Cabrio offen lässt, kann sie schon nach weni­gen Minuten Fahrt nicht mehr durchkäm­men. Der Fahrtwind knüpft daraus eiligst einen dicht­en Filz, der jeden Kamm scheit­ern lässt. Män­ner mit mit­tel­lan­gen oder gar lan­gen Haaren behelfen sich meist mit ein­er Mütze. Eine gute Lösung ist das nicht. Denn wenn sie die Mütze abnehmen, klebt ihr schweiss­nass­es Haar am Kopf und lässt sie ausse­hen wie Dep­pen. Dem Glam­our auf dem Boule­vard ist das eher abträglich.

Dem Cabrio als Traum­bild kann all dies keinen Abbruch tun. Schliesslich wis­sen die Bewun­derin­nen und Bewun­der­er im Strassen­café nichts von den Prob­le­men des Cabri­o­fahrens. Und so lassen sie sich vom Lock­vo­gel-Ange­bot des Auto­händlers bere­itwillig anziehen: Ein Cabrio muss her. Schliesslich wollen sie sich im kom­menden Jahr auch Ein­tritt ver­schaf­fen in den Club der im Ide­al­fall Schö­nen und ange­blich Reichen.

Cabrios mögen zwar wenig prak­tisch sein. Uner­schwinglich sind sie aber nicht (mehr). Marken wie VW, Ford, Fiat, Opel oder Renault bieten Cabrios schon ab 30’000 Franken an. Den offe­nen Bee­tle zum Beispiel gibt es bere­its ab 25’000, den Fiat 500C gar ab rund 20’000 Franken. Ein beson­deres Cabrio hat Maz­da im Pro­gramm: den Zweisitzer MX‑5 (ab 28’900 Franken). All diese Autos bieten einen mehr oder weniger gerin­gen Nutzw­ert – aber dafür unendlich viel Fahrspass. Und auf der Seep­rom­e­nade sind sie in Sachen Glam­our prak­tisch unschlag­bar.

Foto: zVg.
ensuite, Sep­tem­ber 2013

Artikel online veröffentlicht: 2. Juli 2019