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Ein Porsche aus Alabaster

Von Hein­rich Aerni — Beat Gysins rau­makustis­che Kam­merop­er «Marien­glas» in Basel:

Grossar­tig, ja lux­u­riös ist der Gesam­trah­men. Die äussere Hülle bildet die Mau­r­erhalle der All­ge­meinen Gewerbeschule in Basel, ein raf­finiert­er Glas-Beton­bau, die innere, eigentliche Szene ein kubis­ch­er Konz­er­traum – ein offenes Stahlgerüst, die Decke milchig-trans­par­ent, ähn­lich dem «Marien­glas», ein­er trans­par­enten Gipsva­ri­etät, die vor­mals zur Verklei­dung von Heili­gen­bildern ver­wen­det wurde. Die Zuschauer/ ‑hör­er liegen bequem dicht an dicht, zu drei Seit­en sind zusät­zlich Sitz­plätze ange­bracht, jede Per­son trägt einen Kopfhör­er. Das kollek­tive Ein­ver­ständ­nis, sich dieser Anord­nung unterzuord­nen, schafft einen rit­uellen Rah­men, eine innere Ruhe.

Als Bühne dient vornehm­lich die vierte Seite des Quaders, sodass auch die Liegen­den dem Geschehen optisch fol­gen kön­nen. Gespielt wird eine Musik­the­ater­fas­sung von Franz Kafkas Roman­frag­ment «Das Schloss». Lediglich die Haupt­fig­ur K. ist in Szene geset­zt, geteilt in einen Sänger (Xavier Hagen, Altus) und einen gele­gentlich sprechen­den Mimen (Philipp Boë). Dazu kom­men, vor­ab aufgenom­men, ein Klavier­trio plus eine Sopranstimme, daneben aber auch etliche Sprech­stim­men für die weit­eren Roman­fig­uren.

Um es kurz zu machen: Beat Gysin hat das Prob­lem der Lit­er­atur­op­er sou­verän abge­han­delt, indem er die Prosa Prosa bleiben lässt und eine Auswahl von rez­i­tierten Textstellen aus dem Schloss­ro­man­frag­ment musikalisch unter­malt – die Tex­tauswahl besorgte kein Gerin­ger­er als Hans San­er. Von einem drama­tis­chen Ver­lauf kann bei dieser Anord­nung freilich nicht gesprochen wer­den, das Stück wird über weite Streck­en getra­gen von der eigen­tüm­lichen Ele­ganz, die Kafkas Sprache innewohnt. Einzig Hagens monot­on gehal­tene Gesangslin­ien lassen gele­gentlich eine mögliche zusät­zliche drama­tis­che Ebene erah­nen. Kon­trastierend dazu die instru­men­tale Fak­tur, gle­ich­för­mig die nervösen, gele­gentlich erup­tiv­en Ton­um­spielun­gen in gewohn­tem Ges­tus Neuer Musik. Sie ger­at­en zur illus­tri­eren­den, Gysin würde sagen «realk­lan­glichen» Staffage.

Zweifel­los ist es ver­fehlt, auf­grund der Über­schrift «Kam­merop­er» nach entsprechen­den Gat­tungsmerk­malen zu suchen, denn die Stärken des Stücks liegen im Attrib­ut «rau­makustisch». Und da macht es richtig Spass. Eine innere Ebene bildet die Klang­land­schaft, die sich als eigene, wun­der­bare Welt im Kopfhör­er eröffnet: Bis auf die Äusserun­gen der bei­den einzi­gen anwe­senden Darsteller ergiesst sich das vor­ab Aufgeze­ich­nete als Hör­spiel direkt ins innere Ohr, allerd­ings in ein­er bis­lang unbekan­nten räum­lichen Qual­ität. Hier find­et Gysins kom­pos­i­torische Vision ein­er «Musik im drei­di­men­sion­alen Raum» ihre per­fek­te Real­isierung. Als tech­nis­che Inspi­ra­tion und Ref­erenz dien­ten die Errun­gen­schaften gehoben­er Automarken wie namentlich Porsche beim Sound­de­sign etwa ein­er sich schliessenden Autotür. Die Kopfhör­er sind so dezent eingestellt, dass die äussere Ebene, die Gesangs- und Rez­i­ta­tion­slin­ien sowie zusät­zliche Geräusche, gut hör­bar ist. Sie wird durch Mikro­phone teils zusät­zlich in den Kopfhör­er über­tra­gen. Gysin möchte mit diesem Spiel von Nähe und Dis­tanz, von inner­er und äusser­er Musik, die Gebrochen­heit des Land­ver­messers K. erfahrbar machen; das «Kafkaeske» dient lediglich als Chiffre. Um die Bek­lem­mung zu steigern, senkt sich die alabaster­ar­tige Decke bis auf 50 Zen­time­ter auf die Liegen­den herab, die Pro­tag­o­nis­ten sind nur noch als Umrisse erkennbar.

Xavier Hagen in der eher undrama­tis­chen Par­tie als Altus überzeu­gend, Artist Philipp Boë pan­tomimisch etwas über­agierend, als Sprech­er unerträglich. Musikalis­che oder gar gesamthaft kün­st­lerische Höhen­flüge sind in dieser Anord­nung nicht möglich gewe­sen, doch als tech­nisch aufwändig gestal­tete szenis­che Lesung ist der Abend vol­lauf geglückt.

Weit­ere Infos:
www.beatgysin.ch

Foto: zVg.
ensuite, Mai 2010