Von Lukas Vogelsang — Interview mit dem Choreografen Marcel Leemann: Bereits zum 6. Mal findet in der Berner Dampfzentrale das Regio-Tanzfestival «Heimspiel» statt. Das Festival gibt Berner ChoreographInnen eine Plattform, ihr Schaffen in der Heimatstadt zu präsentieren. Bereits zu den erfahrensten Hasen gehört Marcel Leemann. Er ist zwar ursprünglich ein Zürcher, doch schon so lange in Bern am Werk, dass seine Spur im Berner Tanzschaffen überall zu finden ist.
Marcel, Deine neuste Produktion «3/2/1/Silence» spielt am 4., 5. und 6. Februar am Heimspiel Festival – nach meiner Rechnung ist es bereits deine 10. Produktion. Wie hast du dich in der ganzen Zeit weiterentwickelt? Was hat sich an dir in der Zwischenzeit elementar verändert?
Die Produktion beschränkt sich nicht mehr nur auf meine eigene Kompanie, die projektbezogen arbeitet. Ich habe auch verschiedenste Auftragsarbeiten von Theatern bekommen, wie auch Unterrichtsmöglichkeiten an Schulen, Universitäten und sonstigen Institutionen. Mein kulturelles Schaffen hat sich langsam aber stetig ausgedehnt, in Bern, in der Schweiz wie auch im Ausland.
Deine Company tritt unter dem Namen Marcel Leemann Physical Dance Theater auf. Was ist Physical Dance Theater – was ist das Grundkonzept?
Physical Dance Theater wird verwendet, um jede Art der Leistung, die Geschichten erzählt oder Drama verfolgt, primär und sekundär durch körperliche und geistige Mittel zu beschreiben.
Das Grundkonzept meiner Arbeitsweise kann man nicht festlegen. Es ist ein stetiges sich weiterentwickeln und sich mit neuen Umständen auseinadersetzen. Aus meiner Sicht lässt dies keine Grundkonzepte zu. Physical Dance Theater ist ganz einfach das, was ich sowieso schon tue. Der Begriff wird auch der Vielseitigkeit der verschiedenen Sparten gerecht, die ich in meine Arbeiten miteinzubeziehen versuche.
Wie hast du dir deine Company zusammengesetzt? Was muss man können oder wer muss man sein, um mit dir zusammenarbeiten zu dürfen?
Meine TänzerInnen sind unterschiedlichster Herkunft. Multikulturell, wie man so schön sagt. Sie haben auch völlig verschiedene Ausbildungen. Die meisten der Männer sind Spätzünder, das heisst, sie kamen erst über Umwege zum Tanzen. Die Frauen eher klassisch, mit Tanzausbildung. Doch ich habe immer ein engeres und persönliches Verhältnis zu meinen Leuten. Ich bin harmoniebedürftig im Arbeitsprozess, und baue mir da ein Umfeld, das im Kollektiv funktioniert, was mir sehr wichtig ist.
Woran arbeitet ihr mit dem neuen Stück? Kann man sich an etwas festhalten oder orientieren?
Festhalten kann man sich an uns, an den drei Tanzenden. Wir kreieren eine Grundstimmung, eine Energie die Inhalte zulässt. In «3/2/1/Silence» bin ich nicht nur als Choreograf, sondern auch als Tänzer auf der Bühne. Wir suchten zu dritt in Bezug auf die Bewegung nach Strukturen und Dimensionen, nach körperlichen und seelischen Zuständen. Die Sequenzen des Stückes sind einzelne Geschichten von drei Personen die aneinander arbeiten, sich verfehlen oder wieder eine Einheit bilden. Auch interes-sierte ich mich mehr für eine architektonische Ausrichtung meiner Tanzsprache, somit konnte ich dem gesellschaftspolitischen Ansatz einer Performance eine offen entspannte Plattform bieten, die sich im Probeprozess eigenständig entwickeln konnte.
Du bist an den verschiedensten Orten bereits als Tänzer oder als Choreograf engagiert gewesen. Wie vergleichst du andere Städte mit Bern? Was wünschst du dir für den Tanzstandort Bern?
Der Tanz hat in den meisten Städten hart zu kämpfen. Es mangelt an Publikum. Wo ist das Publikum, wer will überhaupt sehen was da so produziert wird in einer Stadt, das sind die Fragen. Tanzstadt Bern: Ich denke es wäre ein gutes Ziel, mal auf Tanz zu setzen, die Schweiz ist klein und könnte sich besser vernetzen. Es gibt Bestrebungen in diese Richtung, wie zum Beispiel die kommenden Zeitgenössischen Schweizer Tanztage. Ich denke, Berner und Schweizer Tanzschaffende, Veranstalter, Geldgeber und Politiker müssten enger zusammen arbeiten und sich weniger am Ausland orientieren.
Was fällt dir beim Thema Fördergeld und Tanz in Bern ein? Ich habe erst gerade gesehen, dass Anna Huber als einzige Company für das Jahr 2010 einen Projektjahresbeitrag von 360’000 Franken vom Kanton Bern erhalten hat. Ist das ein realistisches Förderkonzept?
Mein Budget für «3/2/1/Silence» beträgt 39’000 Franken. Wir sind ein Team von sechs KünstlerInnen die ich bezahlen muss. Ich finanziere mich für meine eigene Produktionen über Eingaben bei der Stadt Bern, dem Kanton Bern und Pro Helvetia, oder wie in der kommenden Produktion, über einen Koproduktionsbeitrag der Dampfzentrale und sonstiger Geldgeber. Ich funktioniere wie ein Kleinunternehmen. Jegliche Auftragsarbeiten die ich mache kommen in einen Topf, in den des Vereins Marcel Leemann Physical Dance Theater. Da bin ich angestellt und beziehe meinen Lohn. Diesen Topf muss ich aber selbst am Kochen halten. Das ist anstrengend und manchmal auch ein wenig furchteinflössend. Existenzielle Ängste sind da schon mal ein Thema. Ich bin ziemlich gut organisiert und ein wenig arbeitswütig, deshalb funktioniere ich schon seit einigen Jahren und komme über die Runden. Ich bin froh, dass wir in Bern wenigstens eine Person haben, die einen Projektjahresvertrag hat. Gegenüber anderen Städten hinken wir da in Bern sehr hinterher. Realistisch für eine starke durchmischte Tanz-szene in Bern ist somit das Förderkonzept für Anna Huber noch nicht, aber auf einem ersten Stand und bestimmt diskussionswürdig.
Siehst du in der Kreativität der Berner Tanzszene ein nennenswertes Potential? Was zeichnet den Berner Tanz für dich aus? Gibt es Merkmale?
Roger Merguin – Co-Betriebsleitung Programm Tanz / Performance in der Dampfzentrale – hat in den letzten Jahren Vollgas gegeben für den Tanz in Bern. Ich finde, dass er kontinuierlich daran arbeitet, mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, Anerkennung für die Kunstsparte Tanz zu gewinnen. Ob man da jetzt künstlerisch nicht immer auf der selben Ebene steht wie Roger Merguin ist nicht so relevant, es ist ein stetiges Vorantreiben spürbar, das mir persönlich gefällt, das ich auch konsequent finde. Die Produktionen sind vielseitig, und das Angebot an Tanz in Bern hat sich enorm vergrössert. Roger Merguin hat auch mit dem Heimspiel, wo Berner Tanzschaffende eine Plattform haben, ein Gefäss geschaffen, welches eigentlich von anderen Häusern kopiert werden sollte. Es könnte ein Städtespiel daraus werden. Nun müssen wir, die Berner Tanzschaffenden, einfach dran bleiben und arbeiten. Ich nehme es mir nicht heraus, nennenswertes Potential in der Berner Tanzszene namentlich zu erwähnen. Nennenswert ist im Allgemeinen was angesagt ist. Doch in Bern wird nicht oft über Tanzvorstellungen von Berner Choreographen geschrieben, und somit kann vorläufig auch auf Berner Ebene nichts richtig angesagt sein.
Aus Deutschland habe ich mal gehört, dass der Schweizer Tanz nicht relevant für die Tanz-Szene Europa sei. Stimmt das aus deiner Sicht oder kannst du das dementieren? Immerhin hast du in der Schweiz mehr Erfahrung, als jene Person aus Deutschland, die mir das gesagt hatte…
Ich habe das Glück dass ich in Oldenburg am Staatstheater für den Nordwest Tanz ein abendfüllendes Stück für zehn Tänzer und drei Schauspieler machen kann im Oktober 2011. Es gibt viel zu viele gute Kompanien in der Schweiz die diese Aussage in Frage stellen. Die Schweiz ist ziemlich dicht bestückt mit Tanz und hat da einiges zu bieten. Doch wie schon angedeutet, wenn man in der Schweiz nicht richtig fördert was es an Produktionen gibt, und zeigt und spielt was an Schweizer Produktionen vorhanden ist, kommt auch das Ausland sich nichts ansehen. Ich habe oft das Gefühl, man will sich immer irgendwo anschliessen, doch ich fände es super wenn sich jemand uns anschliessen möchte, und es so zu Zusammenarbeiten kommen könnte zwischen verschiedenen Ländern und deren KünstlerInnen.
Was möchtest du als Choreograf mal erreichen? Gibt es ein Ziel, welches dir wichtig ist?
Ich denke, ich bin mir immer treu geblieben in den letzen Jahren, und habe mich so selbst nicht zu wichtig genommen, aber meine Arbeit schon. Ich arbeite am Spagat zwischen freischaffend und weiterhin an sogenannt etablierten Häusern Produktionen erarbeitend, wo ich immer wieder mit neuen Menschen und Umständen zu tun habe, die mich weiter vorantreiben. Wie es aussieht bin ich immer noch hungrig auf Tanz, auch wenn es steinig und hügelig voran geht, aber seit zweiundzwanzig Jahren geht es doch immer einen Schritt weiter.
Lebenslauf Marcel Leemann
Geboren 1969 in Steinmauer Kanton Zürich. Mit 18 Jahren, nach einer abgeschlossenen Berufslehre als Zimmermann, absolvierte er eine Tanzausbildung an der John Cranko-Schule in Stuttgart und an der Schule des Ungarischen Staatsballetts in Budapest. Er tanzte in Rom, Budapest, Dresden, Luzern und Bern am Theater. Von 1992 bis 1996 unter der Leitung von Vladimir Derevianko an der Semperoper/Dresden. 1996 bis 1999 tanzte er bei Richard Wherlock am Luzerner Theater. Während der Spielzeiten 1999 und 2003 war Marcel Leemann im Ballett-Ensemble des Stadttheaters Bern unter der Direktion von Félix Duméril. Hier, wie am Luzerner Theater, präsentierte er auch seine ersten eigenen Choreografien. Marcel Leemann wurde für den SIWIC 2001 als Choreograf ausgewählt. Seit 2003 ist Marcel Leemann freischaffender Choreograf, Tänzer, Tanz- und Theaterpädagoge. Auch ist Leemann in unzähligen Jugendproduktionen wie auch Tanzschulprojekten involviert, und gibt regelmässig Profitrainings und Workshops für Professionelle Tanzschaffende wie auch Laien. In enger Zusammenarbeit mit Schauspieldirektor Andreas Herrmann entstehen 2009 und 2010 am Luzerner Theater die Schauspielproduktionen «Woyzeck» und «Antigone» für das Schauspiel-Ensemble. Am Stadttheater St. Gallen (Direktor: Marco Santi) hat er für die Spielzeit 2010 «scenes for nothing», eine abendfüllende Kreation für die Tanzkompanie St. Gallen erarbeitet. 2011 wird Leemann für das Staatstheater Oldenburg ein neues abendfüllendes Projekt erarbeiten.
Das Marcel Leemann Physical Dance Theater gastiert mit seinen Stücken «100 m²», «Meat Market», «Nebel Leben» und «Revolver» regelmässig bei Festivals im In- und Ausland.
Arbeitsort der Gruppe: Bern, gegründet 2005
Marcel Leemann Physical Dance Theater produziert emotionales und physisch anstrengendes Tanztheater. Leemanns Arbeiten sind unerwartet roh, leidenschaftlich, und auch humorvoll. Tanztheater, das herausfordert. Seine Arbeiten beruhen auf strukturierten Improvisationen mit der eigenen, klaren Tanztechnik Leemanns. Kollaborationen mit DJs, VJs, Komponisten und Schriftstellern runden die wieder erkennbaren Choreographien ab. MLPDT arbeitet mit einem festen Kern von exzellenten TänzerInnen.
Foto: zVg.
ensuite, Februar 2011