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Ein zu grauer, zu nasser, zu warmer

Von Peter J. Betts — Ein zu grauer, zu nass­er, zu warmer Feb­ru­ar­Fre­itag­mor­gen: zum Weg­w­er­fen. Die Nässe ist unnötig: der Boden ist eh schon nass; die Wärme entspricht nicht der Jahreszeit – immer­hin, die verbleiben­den drei Feb­ru­ar­wochen kön­nten noch für Win­ter sor­gen. Oder vielle­icht der Mai. Im Migrosladen ist der Zwangs­früh­ling in Töpfen aus­ge­brochen: über­fet­tete Primeln; pen­e­trant-rosarote Hyazinthen neben tief­blauen und knal­lig-weis­sen; grelle, gefüllte Massliebchen; überdi­men­sion­ierte Trauben­hyazinthen: zum Weg­w­er­fen. Und in spätestens zwei Wochen wer­den sie alle zusam­men, mit den Töpfen, in den Müll­säck­en gelandet sein. In den Einkauf­swa­gen vor den Kassen tür­men sich die Vor­räte für das Woch­enende oder die näch­ste Woche. Ich habe kür­zlich gehört oder gele­sen, dass eine Unter­suchung von Haushalt­müll ein über­raschen­des(?) Ergeb­nis aufgezeigt hat: gut die Hälfte des Abfalls beste­ht aus Nahrungsmit­teln (Gemüse, Brot, Fleisch und so weit­er), die an sich noch ess­bar wären, wenn auch einige davon das Ver­brauchs­da­tum vielle­icht um einen Tag oder zwei über­schrit­ten haben (keine Gefahr: nur Sicher­heit des Verkaufs gegenüber der Gewer­be­polizei). Die Kul­tur der Weg­w­er­fge­sellschaft? Vor Jahren haben wir im Früh­ling auf der Route Napoléon in Corps, mit­ten in den Bergen, im Hôtel de la Poste über­nachtet und natür­lich in dessen Restau­rant gegessen. Die niedri­gen Räume des Restau­rants mit auf­fal­l­end kleinen Fen­stern waren voller Blu­men, dazu schwere Samtvorhänge, Far­ben, Leuchter. Auf den ersten Blick über­laden, bei näherem Nach­denken höchst ver­ständlich. Eine karge Land­schaft, ring­sum die schrof­fen, kahlen Berge, im Win­ter wohl alles eingeschneit: Wärme mit allen Mit­teln glaub­würdig zu mobil­isieren, war hier mehr als vernün­ftig und vielle­icht sog­ar not-wendig. Bere­its beim Apéro hätte man sich über­essen kön­nen, nur mit winzi­gen Por­tiönchen aller wun­der­bar zubere­it­eten Speisen sämtlich­er Gänge würde man es schaf­fen, später halb­wegs mit Würde ins Schlafz­im­mer zu wanken. Am näch­sten Tag darauf ange­sprochen, wie man Tag für Tag für Tag mit den wohl immensen Speis­er­esten umge­he, sagte die Wirtin, es sei kein Prob­lem: jeden Mor­gen, vor dem Früh­stück, kämen die Dorf­be­wohner­in­nen und Dorf­be­wohn­er und kön­nten sich kosten­los mit dur­chaus noch sehr ess­baren Resten des Vortages nach Belieben bedi­enen. Eigentlich wür­den hier die Restau­rant­gäste dafür sor­gen, dass die ganze Dorf­be­wohn­er­schaft zu guter Nahrung komme, gewis­ser­massen eine unbe­wusst-kar­i­ta­tive Geste der TouristIn­nen, denn diese Gegend sei eigentlich kein Schlaraf­fen­land. Und, was die Men­schen nicht brauchen kön­nten, würde den keineswegs eingepfer­cht­en Schweinen noch immer Freude bere­it­en. Wohl bevor diese sel­ber in den Töpfen lan­den. Corps: keine Kul­tur ein­er Weg­w­er­fge­sellschaft? Nicht wahr, Ihr Wagen läuft und läuft und läuft. Und wenn er plöt­zlich unter­wegs ste­hen bleibt? Der Fach­mann in der näch­sten Klein­garage wird die Schul­tern zuck­en. Seine ver­füg­baren Elek­tron­ikdi­ag­nosen wer­den wohl nicht auf Ihren Wagen­typ aus­gerichtet sein. Ein Wagen zum Weg­w­er­fen? Wie der besagte Feb­ru­ar­fre­itag? Der ist defin­i­tiv zum Weg­w­er­fen in ein­er Gesellschaft, die unter «schönes Wet­ter» einzig und allein unun­ter­broch­enen Son­nen­schein und nächtlichen Ster­nen­him­mel ver­ste­ht. Der Dorfmechaniker, der einen kaput­ten Keil­riemen mit der Strumpfhose Ihrer Beifahrerin erset­zt hat­te, ist längst im Reich der Sagen ver­sunken. Als Sie vor einem Jahr Ihr iPhone gekauft hat­ten, glaubten Sie, Ihre Infor­matik- und Kom­mu­nika­tion­sprob­leme seien ein für alle­mal gelöst? Jet­zt: was immer Sie ver­suchen – Mattscheibe? Ein Leucht­turm unser­er Zivil­i­sa­tion zum Weg­w­er­fen? Sich­er. Natür­lich gehört das Ding weggeschmis­sen, son­st ist das müh­selige Suchen nach den erforder­lichen Roh­ma­te­ri­alien unter unmen­schliche Bedin­gun­gen für die dor­tige Machtelite und die Grosskonz­erne auf anderen Kon­ti­nen­ten nicht mehr lukra­tiv. Bere­its dieser Fre­itag: zum Weg­w­er­fen. Defin­i­tiv. Und doch: an diesem zu grauen, zu nassen, zu war­men Feb­ru­ar­fre­itag erlebe ich eine Art Wun­der, und zwar in der Kon­textsendung von Christoph Keller auf SRF2 «Kul­tur» zum The­ma: «Die Kul­tur der Reparatur». Ganz offen­sichtlich ist der Geist vor Radio DRS2 nicht nach­haltig genug wegge­wor­fen wor­den. Ich zitiere: «Eine Kul­tur der Reparatur macht sich bre­it in unseren Städten, wie in Europa über­haupt. Über­all schiessen kleine Reparaturlä­den aus dem Boden, Flickschnei­dereien. Handyrepara­teure haben ein erfol­gre­ich­es Geschäfts­feld gefun­den, während sich Quartier­be­wohner­in­nen zu Reparatur­cafés zusam­men­schliessen. Und es gibt sog­ar inter­na­tion­al ver­net­zte High­tech-Reparatur­ket­ten.» Christoph Kellers Sendung ist «Eine Reportage aus den kleinen und grossen Reparatur­w­erk­stät­ten». Eine Per­len­kette von Hoff­nungsträgern wird präsen­tiert unter fol­gen­den Namen: «Reparatur­führer» (eine Ini­tia­tive ver­schieden­er Schweiz­er­städte), «Fablab Zürich», «Repari­er Bar», «Repair Café» und so weit­er. Eine Rei­he von Fra­gen, die uns alle über­fall­en beim Betra­cht­en eines schein­bar(?) kaput­ten Gegen­standes oder bei der Kon­fronta­tion mit meinem Com­put­er, der sich nicht so ver­hält, wie ich Com­put­ertrot­tel es mit vorstelle, er sollte sich ver­hal­ten, laut­en etwa: «Wie gehe ich am besten vor, wenn ich etwas repari­eren lassen will?» oder «Wie erstelle ich ein Pro­fil für meinen Reparaturs­er­vice?» oder «Mir wurde gesagt, mein Gegen­stand sei nicht reparier­bar; ist das wirk­lich so?» oder «Wie aktuell sind die Ein­träge auf reparaturführer.ch?». Nicht nach dem Mot­to: «Ratschlag=Totschlag» wer­den einige Tipps präsen­tiert: «Lass dich nicht von redege­wandten Verkäuferin­nen oder Verkäufern statt der Reparatur zum Neukauf überre­den. Manch­mal lohnt sich der Gang in ein zweites oder drittes Geschäft!», oder: «Umschreibe bei grösseren Repara­turen und Ser­viceaufträ­gen die ver­langten Arbeit­en möglichst klar und lege einen Ter­min für die Abliefer­ung fest. Ver­lange Kosten­vo­ran­schläge», oder: «Ver­lange für grössere Repara­turen einen detail­lierten schriftlichen Kosten­vo­ran­schlag und erkundi­ge dich, ob dieser beim Verzicht auf die Reparatur kosten­los ist», oder: «Frage bere­its beim Neukauf von Pro­duk­ten nach deren Reparier­barkeit sowie den Ser­viceleis­tun­gen. Bevorzuge Geschäfte mit einem Reparaturs­er­vice», oder: «Viele Sachen kann man sel­ber flick­en.» Und so weit­er. Mor­gen­röte an einem grauen, nassen, wärm­lichen Feb­ru­ar­mor­gen? Gut, eine falsche Meta­pher: auch ich kenne die Wet­ter­regel: «Aben­drot: Gutwet­ter­bot — Mor­gen­rot: mit Regen dro­ht.» …dro­ht… In mein­er let­zten Frage bezieht sich Mor­gen­röte allerd­ings nicht auf eine eher zweifel­hafte Wet­ter­prog­nos­tik son­dern auf die Funk­tion, den Tage­san­bruch anzukündi­gen. Wenn unsere Gesellschaft mehr und mehr und mehr (möglichst einzelpärchen­weise) im Riesenswim­ming­pool unser­er Weg­w­er­fkul­tur umher­plan­scht, während ein immer grösser­er Teil unser­er Mit­men­schen deswe­gen im Elend zu ersaufen dro­ht, kündigt sich nicht der Tag an, son­dern eben eine ziem­lich dauer­hafte Nacht. Für alle. Eine Weile wer­den die Reichen noch sehr viel reich­er wer­den, aber auch sie wer­den mit der Zeit merken, dass man sich von Geld – wed­er in Papier‑, Met­all- noch virtueller Form nähren kann. Das an einem nass-grau-wärm­lichen Feb­ru­ar­fre­itag von Christoph Keller während ein­er hal­ben Stunde vorgestellte Mod­ell ein­er sorgsameren Kul­tur kön­nte ein vor­erst san­ftes Zeichen von Früh­lingserwachen darstellen (Scheeglöckchen während Wochen, bevor Krokusse, Adon­is­röschen, Anemo­nen, Narzis­sen das Gras zufär­ben). Es geht dabei um einen glob­alen Früh­ling, der sich noch unauf­fäl­lig, keineswegs im Ram­p­en­licht, vielle­icht aber schon bald unaufhalt­sam aus­bre­it­et. Und, bei näherem Über­legen, kann man schlicht und ein­fach «schönes Wet­ter» nicht mit entwed­er Son­nen­licht oder klarem Ster­nen­him­mel umschreiben. Wie käme die Bew­er­tung: ein zu grauer, zu nass­er Feb­ru­ar­fre­itag­mor­gen zum Beispiel in der Sahel­zone an?

Foto: zVg.
ensuite, April 2014