Von Barbara Roelli — Wenn mich jemand nach den kulinarischen Spezialitäten unseres Landes fragt, dann leiere ich ganz automatisch jene Speisen und Produkte runter, die allgemein und plakativ dem Bild der Schweizer Küche entsprechen: Fondue, Raclette, Rösti, Berner Platte, Zürcher Geschnetzeltes, Luzerner Chügelipastetli, Älplermagronen. Und natürlich die Schokolade: Toblerone, so steil wie der Niesen, Lindor Kugeln, die auf der Zunge zart dahinschmelzen wie frischer Schnee an einem sonnigen Wintertag. Diesen kulinarischen Errungenschaften gegenüber bin ich abgebrüht. Die Frage «Wer hats erfunden?» habe ich mir schon länger nicht mehr gestellt. Bis zu jenem Tag im Juli dieses Jahres, als ich auf einer Velotour, dem Jurasüdfuss entlang, eine Rast einlegte. In einer Ortschaft betrat ich die Terrasse eines Gasthofes. Dort setzte ich mich an einen Tisch in den Halbschatten der Bäume. Sonnenstrahlen schienen zwischen den Blättern hindurch und auf dem Wachstischtuch entstand ein Schattenspiel. Die Wirtin kam aus dem Haus und ich bestellte ein Panasch. Vom Velo fahren war mein Blutzuckerspiegel gesunken und mich gelüstete nach einem nahrhaften Schokoladeriegel. Die Wirtin schaute nach, was sie an Schokolade im Sortiment führt. Kägi-fret habe sie. «Ou ja – ein Kägi-fret, gerne!» Ich reagierte wie auf eine alte Bekanntschaft, die ich beinahe vergessen hatte. Alter Kumpel Kägi-fret – auf dich ist Verlass! Du fehlst in keiner Gaststube, dein Platz ist im Körbli auf dem Bartresen. Neben Zweifels Paprikachips und Appenzeller Biberli.
Ich betrachtete die Verpackung: Den roten Schriftzug auf weissem Papier, die zwei leicht voneinander abstehenden Kägi-fret Riegel, deren Schokoladenglasur glänzt, wie eben erst darübergegossen. Das elipsenförmige Bildchen unten rechts zeigt eine hellgrüne hügelige Landschaft durch die sich ein Bach schlängelt; vermutlich das Toggenburg, wo die Kägi-frets hergestellt werden. Am Horizont erhebt sich eine Gebirgskette mit Schweizer Flagge und einem Steinbock. Proportional zum Berg wirkt er wie King Kong auf dem New Yorker Empire State Building.
Aber zurück von King Kong zum Kägi-fret. Behutsam entfernte ich die Papierhülle, riss die Alufolie auf und da lag sie: Eine Schweizer Waffelspezialität umhüllt mit Milchschokolade (38%) – wie auf der Verpackung deklariert. Doch was eigentlich bedeutet der Name? Dieses Rätsel hat Beat Siegfried, CEO der Kägi Söhne AG, auf meine Anfrage hin gelüftet: «Kägi» ist der Familienname der Firmengründer und «fret» die Abkürzung von «gaufrettes», die französische Bezeichnung für Waffel. 1958 hat Otto Kägi Senior mit seinen drei Söhnen das Produkt Kägi-fret erfunden. Dies gelang nach einer langen Versuchsreihe, so Beat Siegfried. Erstmals konnte eine zarte knusprige Waffel mit Schokolade überzogen werden. Waffel und Schokolade in einem Produkt war, laut Siegfried, eine Weltneuheit.
Zurück auf die Terrasse am Jurasüdhang: Ich biss in einen der beiden Kägi-fret Riegel, dieser früheren Weltneuheit, spürte die Milchschokolade auf der Zunge schmelzen und das Knuspern der zarten Waffel zwischen den Zähnen. Fast hätte ich es vergessen, dieses Schweizer Produkt. Doch Kägi-fret hat sich in die Herzen der Schweizerinnen und Schweizer gefressen: Laut einer Abstimmung auf Radio DRS1 im März 2011, sind die Kägi-fretli (Familienpackung mit kleinen «frets») als Lieblingsguetzli auf Platz 1 gelandet. Falls mich das nächste Mal jemand nach Schweizer Spezialitäten fragt, dann denke ich an die Velotour am Jurasüdfuss zurück.
Foto: zVg.
ensuite, August 2011