Von Nicole Rampa, Ausstellungsbesprechung – Emma Kunz (1892–1963) hat sich nie als Künstlerin verstanden und ihre Zeichnungen nie als Kunst interpretiert. Die im Aargau geborene Forscherin und Naturheilerin nutzte die Diagramme als Hilfsmittel, um Heilung zu bringen – dem Menschen und seiner Umwelt. Hierzu befragte sie über Millimeterpapier das Pendel zu politischen, philosophischen und privaten Themen und überführte die ihr angezeigten Energiefelder in eine betörend schöne, abstrakte visuelle Realität. Es sind filigranste geometrische Muster, die an Mandalas oder an den Blick durchs Kaleidoskop erinnern und einen vieldimensionalen Raum suggerieren, der sich in unserer Imagination unendlich fortsetzen lässt. Die Antworten, die Kunz in diesen komplexen Bildwelten fand bleiben weitgehend verwehrt. Aber Roland Barthes hat in den 1960er Jahren ja bereits postuliert, dass die Bedeutung eines Werks unabhängig von der Intention des Autors/der Autorin sich erst im Akt des Lesens respektive des Betrachtens generiert.
Die Arbeiten von Emma Kunz, ihre Haltung und ganzheitliche Denkart erweisen sich als direkte oder auch indirekte Inspirationsquellen für eine junge KünstlerInnengeneration, was sich im Kontext der aktuellen Ausstellung im Aargauer Kunsthaus wunderbar herauskristallisiert. Spiegelung und Repetition findet sich als gestalterisches Element in fast jeder Zeichnung von Emma Kunz und bildet auch eine mitunter metaphorische Grundlage der gezeigten zeitgenössischen Arbeiten, in denen Raum – ganz im Sinne von Kunz – nicht als Vakuum oder Leere, sondern als lebendige Einheit verstanden wird, die voller Möglichkeiten steckt. Florian Graf hält uns in «Artist I» (2021) gleich zu Beginn des Rundgangs einen grossen, gerahmten Spiegel vor und damit unser eigenes Konterfrei, welches unseren Blick hinter den unterschiedlichsten Rollenbezeichnungen erwidert, die nacheinander auf der Spiegeloberfläche aufscheinen. Sie sind ein Versuch, das zu umreissen, was eine Künstlerexistenz heute alles umfasst. Die Palette ist gross und reicht von Social Worker und Creative Director bis hin zu Dream Guide, Transformer oder Healer. Was für Emma Kunz lebensbestimmend war, nämlich das mühelose Bewegen zwischen den Disziplinen, findet hier eine Fortsetzung. Im Anblick des eigenen Spiegelbilds drängt sich dabei die Frage nach der Kategorisierung des eigenen Daseins auf. Die vielleicht darin münden darf, dass dies generell nicht möglich ist, sondern immer nur eine Annäherung bleibt. Dass wir stets mehr sind, als das blosse Abbild unserer selbst. Fragen nach Bild und Abbild, nach Sein und Schein, respektive nach Wahrheit und Täuschung kommen auf eindrückliche Weise auch in der im Innenhof gezeigten Intervention zum Tragen. Lauryn Youden (*1989), deren Praxis in der Verbindung von Medizin und Ritualen zur Selbstheilung derjenigen von Kunz nicht unähnlich ist, hat «Peering through a Half-Open Door» (2021) für die Ausstellung entwickelt. Aus dem Gestein der Emma Kunz Grotte – einem von Kunz entdeckten Kraftort in Würenlos/AG – liess sie ein Portal anfertigen, welches sich nun mehrfach in der Glasfassade des Museums spiegelt. Original und Kopie vermengen sich, vielleicht so, wie manchmal Realität und Traum. Haften bleibt in diesem Zusammenhang eine Sequenz aus der im angrenzenden Raum gezeigten filmischen Collage «Premium Connect» von Tabita Rezaire (*1989). Hier erscheint Morpheus aus dem Film Matrix dem desillusionierten Leo mit den Worten: «You lived in a dream world.» Doch was, wenn sich unsere innerste Wahrheit erst im Traum manifestiert? Da, wo unsere Gedanken frei sind? «Je rêve donc je suis», so die bekannte Intellektuelle Susan Sontag, die das Träumen einst als Basis ihrer Existenz bezeichnete.
Laut Zeitgenossen, die in Filmausschnitten in der Ausstellung zu Wort kommen, soll Emma Kunz hoch konzentriert teils bis zu 24h an einer Zeichnung gearbeitet haben. Sie selbst sprach von einer bestimmten Gesetzmässigkeit, die sie in sich spürend nie habe zur Ruhe kommen lassen. Wohl nur in Momenten der absoluten physischen wie mentalen Hingabe war es ihr möglich, die gespürten Energien zu transformieren und visuell sichtbar zu machen. Vielleicht ähnlich einem tranceartigen Bewusstseinszustand, wo Energien zwischen Geist und Körper unbehindert fliessen. So, wie bei den ProtagonistInnen in Joachim Koesters (*1962) gezeigtem Film «Tarantism» (2007), die in ekstatischem Tanz jedem Impuls Raum geben und dadurch einen Zustand der Befreiung erfahren. Dass die Besuchenden unweit davon der bekannten Okkultistin Madame Blavatsky begegnen, die in der Arbeit von Goshka Macugas (*1967) buchstäblich über zwei Stuhlbeinen schwebt, erscheint dabei so überraschend wie konsequent. Im Gegensatz zu Blavatsky musste sich Shana Moulton (*1967) für die Schwerelosigkeit weitaus irdischerer Kräfte bedienen. In «Inversion Therapy» (2019) sehen wir sie als ihr Alter Ego Cynthia wie durch ein Guckloch eines Raumschiffs auf einem Schragen liegen, der sich inmitten des Universums um seine eigene Achse dreht. Unter betörendem Gesang scheint sie eins zu werden mit dem Kosmos. Ob es Heilung bringt?
Das Sprengen von räumlichen wie mentalen Grenzen ist ein Thema, das sich ausgehend von Emma Kunz wie ein roter Faden durch die Ausstellung zieht und sich auch in Werken zeigt, die sich nicht nur optisch von der Fläche lösen, sondern durch Lichtquellen in den Raum abstrahlen und diesen so regelrecht durchdringen. Dora Budors (*1984) mystisch anmutende Vitrinenarbeit «Origin II» (2019) etwa, in der sich Farbpigmente geheimnisvoll zu einer sich stetig wandelenden Kraterlandschaft türmen. Oder Mai-Thu Perrets (*1976) Wandarbeit aus Neonröhren, die basierend auf einer Zeichnung von Emma Kunz entstanden ist und sich grossflächig in der gegenüberliegenden Fensterfront spiegelt. Von der Gravität fast gänzlich befreit präsentiert sich die Videoinstallation «Meeting a flower half way» (2021) von Sirah Foighel Brutmann & Eitan Efrat (beide *1983). Eine kreisrunde, mitten im Raum scheinbar schwebende Projektion, die von Emma Kunz’ Ringelblumenexperiment inspiriert ist und das Kräfteverhältnis von Natur und Mensch befragt. Während Kunz das Wachstum der Pflanze mit dem Pendel mental beeinflusste – diese in Folge mehrere Blüten an einem Stängel ausbildete – so greift das Künstlerduo hier physisch in den natürlichen Wachstumsprozess ein. In der visuellen Überlagerung mit Nahaufnahmen aus der Emma Kunz Grotte und Detailansichten von Kunz’ Zeichnungen kreieren die Kunstschaffenden eine kraftvolle imaginäre Welt voller Poesie. Die Projektion wird mit ihrem linearen Schattenwurf auf Wänden, Boden und Decke dabei selbst zum Diagramm im Raum.
Emma Kunz war eine Frau, die abgesehen von ihrer Tätigkeit als Heilerin nicht gross Gesellschaft suchte. Sie habe zurückgezogen gelebt, habe allein sein wollen, heisst es in den erwähnten Filmausschnitten. Sie war allein aber nicht einsam. Ganz nah bei sich selbst und doch mitten in der Welt. Ihr Bemühen darum, die im Kosmos vorhandenen, aber nicht offen-sichtlichen Kräfte «dingbar» zu machen, findet eine schöne Analogie fast am Ende des Rundgangs. In der 3D-Animation «Cosmic Strike» (2018) von Lea Porsager (*1981) erhalten die aus der Quantenforschung bekannten Neutrinos eine Hauptrolle. Die Elementarteilchen, die sämtliche Materie durchdringen können, aber kaum nachzuweisen sind, nehmen den/die BetrachterInnen mit auf eine wilde galaktische Fahrt, deren Vision der Künstlerin beim Meditieren gekommen sein soll. Man fühlt sich ein wenig wie Alice im Rabbit Hole. Und von da wissen wir ja: Vor dem Wunder kommt der freie Fall.
Der Kuratorin Yasmin Afschar ist es gelungen, Emma Kunz als Visionärin eine Bühne zu geben und die 14 zeitgenössischen Positionen gleichzeitig in ihrer je eigenen Kraft zu zeigen. In der vielschichtigen Vernetzung und den darin anklingenden Themen, im fruchtbaren Dialog, der ohne laute Gesten auskommt, kristallisiert sich das Portraet einer aussergewöhnlichen Frau heraus, für die das Zusammenwirken von Wissenschaft und Naturkunde, von kosmischen Kräften und Magie eine Selbstverständlichkeit war. In der heutigen von Computern und Smartphones dominierten Welt, deren Angebote täglich unsere Antizipation unterlaufen, ist das Wertvollste, das wir von Emma Kunz mitnehmen können vielleicht der Glaube an die transzendentale Kraft des Imaginären und Unsichtbaren. Und damit verbunden die Überzeugung, dass man träumen und gleichzeitig hell wach sein kann.
Aargauer Kunsthaus, Aarau
«Kosmos Emma Kunz. Eine Visionärin im Dialog mit zeitgenössischer Kunst»
Ausstellung 02.03.2021 – 24.05.2021