Von Belinda Meier - Mit «32, Rue Vandenbranden» des belgischen Künstlerkollektivs Peeping Tom gelang dem diesjährigen Berner Theaterfestival Auawirleben in der Dampfzentrale Bern ein fulminanter Auftakt. Das Stück beeindruckt durch wunderbar erzeugte Gefühlswelten ebenso wie durch tänzerische und akrobatische Höchstleistungen.
Die Bühne zeigt eine öde Winterlandschaft. Es ist Nacht, ein eisiger Wind pfeift übers Land. Zu sehen sind drei Wohncontainer, in denen Licht brennt. Ein Wimmern setzt ein. Es ist dasjenige eines Babys. Woher kommt es? Aus einem der Container? Nein. Man erkennt es nun: Das Baby liegt im Schnee. Eine Frau nähert sich dem wimmernden Kind, geht auf die Knie und beugt sich zu ihm vor. Was tut sie da? Sie vergräbt es im Schnee, bis das Wimmern nicht mehr zu hören ist. Was für ein Stückbeginn! Einem Schlag ins Gesicht kommt er gleich. Wer noch damit beschäftigt war, eine bequeme Sitzposition zu suchen, die Jacke auszuziehen oder den Schwatz mit dem Nachbarn zu beenden, der ist allerspätestens jetzt mit absoluter Aufmerksamkeit beim Bühnengeschehen und hat alles rundherum ausgeblendet.
Höllenfahrt in Traumbildern Das belgische Künstlerkollektiv Peeping Tom, das bereits mit der Trilogie «Le Jardin», «Le Salon» und «Le Sous Sol» bei Auawirleben 2009 zu faszinieren verstand, hat mit «32, Rue Vandenbranden» eine Produktion geschaffen, die Schlag auf Schlag überrascht und Szenen generiert, die im einen Moment empören, im nächsten ergreifen und kurz darauf entzücken und belustigen. Geredet wird kaum. Die Körperbewegungen, Mimik und Gestik, begleitet von Geräuschen und Musik, sind aussagekräftig genug. Was Peeping Tom in «32, Rue Vandenbranden» zeigen sind locker zusammengewürfelte Szenen von im Leben nach Nähe und Harmonie suchenden Menschen. Was dabei immer auch mittransportiert wird sind Gefühle und Stimmungen. Diese sind es dann auch, die die Zuschauer ergreifen und sie mit auf eine Reise nehmen, die von Hochs und Tiefs bestimmt ist. Eine Reise, die temporeich und von krassen, wechselnden Kontrasten geprägt ist; eine Reise, die befremdet, in Erstaunen versetzt, unversehens ins Komische abdriftet, und, vor allem: nie zum Stehen kommt. Die Stückdramaturgie gleicht dabei einem Traum: ohne Erklärungsbedarf verändern sich Welten, verwandeln sich Personen, lösen sich Beziehungen auf und kippen Stimmungen.
Körper transportieren Emotionen Die sechs Schauspieler, drei Frauen und drei Männer, mit Ausnahme der Mezzosopranistin Eurudike De Beul allesamt professionelle Tänzer, erschaffen in «32, Rue Vandenbranden» Figuren, die einsam und traurig sind, deren Träume unerfüllt bleiben. So sieht man das unglücklich verliebte Liebespaar Jos (Jos Baker) und Sabine (Sabine Molenaar). Ihre Beziehung ist unterkühlt und verkrampft. Obschon er sie schlägt und betrügt, will sie bei ihm bleiben. Die tänzerischen und akrobatischen Kunststücke machen es deutlich: Ohne den Boden zu berühren umschlingt Sabine mit ihren Beinen seinen Körper. Jos packt emotionslos ihre Arme und steuert ihre Bewegungen. Einmal hängt sie gleich einem Rucksack an seinem Rücken, dann wieder wie ein Beutel an seinem Bauch. Der Anblick befremdet und fasziniert zugleich.
Traum oder Wirklichkeit? Marie (Marie Gyselbrecht), eine weitere Figur, ist schwanger von Jos, fühlt sich einsam und allein gelassen. Während sie von einer gemeinsamen Zukunft mit Jos träumt, verwandelt sich ihr Traum auf der Bühne urplötzlich zur vorübergehenden Realität. Sein und Schein stiften Aufregung und Verunsicherung. Wir sehen Marie und Jos in dessen Wohnung. Sie trägt Sabines Morgenrock und geniesst seine zärtliche Umarmung. Sie küssen sich. Sabine, draussen in der Kälte, beobachtet alles durchs Fenster, verliert ihre Fassung und beginnt wie wild an die Tür zu hämmern und ohrenbetäubend herumzuschreien. Jos öffnet die Tür, bittet sie herein und schliesst hinter ihr wieder ab. Maries Traum und gleichzeitig Sabines Albtraum haben sich aufgelöst, die Realität ist zurückgekehrt.
Atemberaubende Bilder Solche spannungsgeladene Momente werden immer wieder durch bizarre Komik gebrochen, wobei die Übergänge stets unfassbar fliessend verlaufen. Man sieht beispielsweise Maries Verehrer (Seoljim Kim), einen Koreaner, wie er mit seinem Regenschirm einen kräftezehrenden Kampf gegen den Wind führt. Nebenan im Wohncontainer ist Marie, die mit den Füssen voran aus dem Fenster schlüpft, und zielsicher neben ihm unter dem Schirm landet. Ein Fetzen Vorhang ist an ihrer Stirn hängen geblieben und macht damit das wunderbare Bild eines Brautpaares komplett. Solche Szenen versetzen den Betrachter ebenso sehr in Staunen, wie es die akrobatischen und tänzerischen Intermezzi, die Bilder von Seehunden, Wieselball-Spielzeugen, aneinander stossenden Kugelpendeln erzeugen. Und spätestens dann, wenn Eurudike De Beul mit ihrem Solo den ganzen Theatersaal zum Beben bringt, bleibt dem Zuschauer die Luft weg. «32, Rue Vandenbranden» von Pe-eping Tom erzählt in fantastisch geschaffenen Bildern von Einsamkeit, unerfüllten Träumen, Enttäuschungen, von Hass und von Abhängigkeiten. Was bleibt: Die Bewunderung für eine derart vielseitige, zur Perfektion entwickelte Körperbeherrschung einerseits, und eine gros-se Faszination angesichts der Kunst, damit derart viele Gefühle beim Betrachter auslösen zu können.
Info: www.peepingtom.be
Foto: Herman Sorgeloos
ensuite, Juni/Juli 2011