Von François Lilienfeld - Es gibt schöpferische Menschen, die gleich mit ihrem Erstlingswerk eine stupende Wirkung erzeugen. Dies ist bei der 35-jährigen Pariserin Sarah Barukh ganz sicher der Fall. Ihr erster Roman, „Elle voulait juste marcher tout droit“ („Sie wollte nur geradeaus gehen“), gehört zu den Büchern, die einen nicht loslassen, sowohl durch die Geschichte, wie auch durch die Art des Erzählens. (Erschienen bei Albin Michel; Paris, 2017)
Im Mittelpunkt steht Alice, ein 1938 geborenes jüdisches Mädchen, das die deutsche Besetzung Frankreichs auf dem Land überlebt, versteckt bei der Bäuerin Jeanne.
Doch ihre grössten Probleme kommen nach dem Krieg auf sie zu. Sie wird hin- und hergeschoben, zur Mutter nach Paris, zum Vater nach New York. Ihre Verwirrung wird immer grösser – und gleichzeitig ihre Reife. Schliesslich nimmt sie ihr Schicksal selbst in die Hand und entdeckt auf abenteuerlichste Weise die Geheimnisse ihrer Familie. Dabei legt sie geradezu umwerfende Talente an den Tag, und auch ein gerüttelt Mass Kühnheit und – im besten Sinne! – Frechheit, was man im Jiddischen als Chuzpe bezeichnen würde …
Sarah Barukh hat sich intensiv mit der Geschichte der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit befasst. Die lange Liste am Ende des Buches, in der sie sich für die Hilfe vieler Menschen bedankt, ist beredtes Zeugnis dafür, wie sorgfältig sie sich mit dem historischen Hintergrund befasst hat.
Am tiefsten ist man jedoch von der feinfühligen Art beeindruckt, mit der sie sich in die Personen des Romans versetzt, Menschen, die eine schwere Bürde an Verletzungen mit sich tragen, Opfer barbarischer Zustände. Die Autorin schreibt lebensnah – dies bedeutet, dass auch der Humor nicht zu kurz kommt. Und man weiss am Ende nicht, wen man mehr bewundern soll: die kleine Alice oder die Autorin.