Von Fabienne Naegeli — Im Schlachthaus sucht Hans Gretel und im Tojo sucht man muster zu durchbrechen: Wer kennt es nicht aus den Medien – Familien am Rande der Existenz?! Arbeitslosigkeit, Armut, Alkoholismus, Hartz IV, Ausgrenzung, Verwahrlosung, Zukunftslosigkeit. Der aus Wales stammende Autor Charles Way befasst sich in seinem Stück «Looking for Grethel», einer aktuellen Adaption des Märchens «Hänsel und Gretel» der Gebrüder Grimm, mit dem Thema soziales Elend und Familie. Hans ist 15 und seine Schwester Grete 9 Jahre alt. Er geht nicht mehr zur Schule, hat keine Arbeit und seine Zukunftsperspektiven sind hoffnungslos. Sein Zuhause meidet er, da er sich in der Enge der trostlosen Wohnung unerwünscht fühlt und ihm in der von Streit erfüllten Atmosphäre die familiäre Harmonie und Geborgenheit fehlt. Lieber zieht er sich alleine in den Turm einer stillgelegten Zeche zurück. Für seine kleine Schwester fühlt er sich nach dem Tod der Mutter verantwortlich. Er will sie beschützen, klaut und prügelt sich für sie. Grete liebt ihren Bruder über alles. An ihre Mutter kann sie sich nicht mehr erinnern. Von Hans will sie aber die Geschichten hören, die Mutter früher immer erzählt hat. In der Schule ist sie auffällig und hat Schwierigkeiten, weil sie immer träumt und Wunschgeschichten erfindet. Ist sie nicht in der Schule, dann schaut sie zu Hause kitschige, sinnlose Fernsehserien. Im Gegensatz zu Hans, der den Vater verachtet, mag Grete ihn sehr, denn er schenkt ihr immer Plüschtiere. Der Vater, früher Fernfahrer, ist arbeitslos und hat sich selbst wie auch seine Familie aufgegeben. Trost sucht er im Alkohol in seiner Stammkneipe. Nach dem Tod seiner Frau, hat er eine neue geheiratet. Der Stiefmutter sind die Kinder und ihr Mann lästig geworden. Sie ist von ihrem Leben enttäuscht, glaubt aber als einzige der Familie noch daran, aus der Misere herauszukommen. Um das Haushaltsbudget zu entlasten soll Hans die Familie verlassen, was er aber wegen Grete nicht tun kann. Wie im Märchen der Gebrüder Grimm der Mangel an Essen die Eltern zwingt ihre beiden Kinder auszusetzen, so werden auch die Eltern in Ways‘ Adaption aufgrund der sozialen Not zu unmenschlichem, rücksichtslosem Handeln getrieben. Inspiriert durch das Fernsehen kommt der Stiefmutter die Idee einer Kindsentführung um sich aus der Armutsfalle zu retten. Denn solch ein Geschehnis erregt bekanntlich viel Aufmerksamkeit sowie Mitleid in der Bevölkerung. Ein entfernter Cousin wird in den Plan eingeweiht und Grete wird entführt. Das Verschwinden meldet die angeblich verzweifelte Stiefmutter der Polizei, worauf eine grosse Suchaktion begleitet von medialem Interesse gestartet wird. Um der Familie zu helfen beginnt die Bevölkerung Geld zu sammeln und alles deutet auf ein Gelingen des skrupellosen Planes hin. Hans ist über das plötzliche Verschwinden seiner Schwester verzweifelt. Er glaubt beobachtet zu haben wie sie mit einem Fremden vom Spielplatz wegging. Oder war es vielleicht doch ein anderes Mädchen? Getrieben von Skepsis und Misstrauen beginnt er Grete alleine zu suchen. Wird er sie wohl finden? Und wird sich das Schicksal der beiden Kinder ins märchenhafte Glück wenden? Nach «Schneeluft» (2003) führt Eiger Mönch und Jungfrau mit «Wo ist Gretel?» bereits zum zweiten Mal ein Stück von Charles Way auf. Fasziniert von der Drastik und Direktheit der Sprache sowie der Art und Weise, wie der Dramatiker seine Figuren jeweils aus ihrer Perspektive und ihrer eigenen Wahrnehmung sprechen lässt, zeigt das Theater Eiger Mönch und Jungfrau mit «Wo ist Gretel?» einen sozialkritischen Krimi und reflektiert die persönlichen Auswirkungen prekärer wirtschaftlicher Entwicklungen unserer Zeit. Auch die interkulturelle Theatergruppe Ararat befasst sich in ihrer dritten Produktion mit aktuellen Themenfeldern wie Integration, (Wirtschafts-) Krise und Massenmedien. Aus dem Bedürfnis heraus einen Raum für die Begegnung zwischen Menschen verschiedener Kulturen und Religionen zu schaffen und auf die Verfolgung von Minderheiten aufmerksam zu machen, haben sie sich im Jahr 2000 zusammengeschlossen. Ihr neustes Stück «Ein Heimspiel» hat das Ensemble erstmals selbst entwickelt. Es handelt in einem abgeschlossenen Raum, der keine Entwicklung oder Veränderung zulässt. Die Zeit steht quasi still im Hier und Jetzt. Es herrscht ein unangenehmes Gefühl von Ohnmacht an diesem Ort, in dem tragende Beziehungen fehlen. Eine ältere, noble Lady mit französischem Akzent ist in diesem Raum. Sie träumt, dass Er kommt und mal wieder Ordnung macht. In ihrer Jugend hat sie mit ihm, auf den sie jetzt wartet, eine tolle Zeit verlebt. Die Börsenkurse fallen, schlechte Nachrichten und Katastrophen werden von einem älteren Herrn, einer Art Butler, hereingebracht und gehören zur Tagesordnung. Zwei jüngere Figuren, ein verspieltes Mädchen und ein intellektueller Junge, der sich in die virtuelle Welt zurückzieht und Experte für alles ist, steigern sich wettbewerbshaft zu Höchstleistungen. Die unterschiedlichen Geschichten der Charaktere und die Geheimnisse ihrer Herkunft, die ihr Verhalten prägen, werden fragmentartig angedeutet. Doch die Gegenwart dominiert alles, weshalb sie nicht zu Ende erzählt werden können. So kennt man sich untereinander nicht wirklich. Zwischen den vier Figuren werden Kontaktaufnahmen versucht, denn Fragen könnten in der Situation helfen. Aber jeder nimmt trotz der Sehnsucht sich Preis zu geben nur seine Ängste wahr, hört den anderen gar nicht richtig zu und wiegt sich in der Verwendung der altbewährten Muster in Sicherheit, denn bei allem anderen besteht ein Risiko des Scheiterns. Man spielt also seine Rolle. Jeder kann machen, was ihm passt. Differenzen müssen toleriert werden. Um den Raum erträglich zu machen, spielt man die Rollen der anderen nach, deren Andersartigkeit aber als unwichtig ausgeblendet wird. Ein Fremder kommt plötzlich in den Raum. Er ist Rosenverkäufer, heisst Lucky und kennt die Regeln des Ortes nicht. Er erzählt von sich und seinen Träumen. Er fragt, will wissen, versucht zu begründen, stellt sich auch selbst Fragen und versucht den Mustern entgegen zu halten. Das Exotische des Fremden birgt Gefahren und Verlockungen. Kurze Zeit gelingt es ihm die andern aufzuweichen. Er weckt Hoffnungen. Aber die Muster sind zu stark, sodass auch er Teil des Spiels wird und sein eigenes Spiel vorspielen muss. Denn dem Spiel kann sich niemand entziehen. Das Theater Ararat befasst sich in «Ein Heimspiel» mit der Thematik, wie wir mit Fragen umgehen und was passieren kann, wenn wir diese mit schnellen, offensichtlichen Musterlösungen beantworten. Was geschieht, wenn wir bloss das Gute des Fremden annehmen und das Schwierige des Andern ausblenden, sich beide Seiten nur mit Klischees begegnen und sich in die Geschichte des Gegenübers nicht mehr zu vertiefen wagen. In einer multikulturellen Gesellschaft führt Nicht-Wahrnehmen zum Dialogabbruch, zu Ignoranz, Angst und irrationaler Abgrenzung. Können die Figuren im Stück diesen Prozess noch aufhalten und wagen sie den Weg aus dem Spiel, oder wird es am Ende ein Heimspiel im vermeintlichen Schutz der einfachen Muster?
Foto: zVg.
ensuite, November 2010