Von Peter J. Betts - Erinnern Sie sich an den Schlingel, der zur Strafe einen, wie ihm schien, unendlich langen Zaun streichen musste? Nein, es ist nicht Eugen, auch wenn er mit Eugen, der sehr viel später das Licht der Welt erblickte, ebenfalls durch Druckerschwärze getauft, sehr eng verwandt scheint, wobei Eugen ein schweizerisches Produkt des zwanzigsten Jahrhunderts ist und, soviel ich weiss, nie in den Vereinigten Staaten sein Unwesen getrieben hat. Ich helfe Ihnen weiter: er verliebt sich in die für ihn unwiderstehliche Becky Thatcher… Nein? Noch ein Hinweis: mehr oder weniger unbeabsichtigt wird er Zeuge verbrecherischer Taten, und muss um sein Leben bangen… ? Weiter: sein Autor, mit allen Wassern und Abwassern der menschlichen Seele gewaschen, kann Lesenden viele Wege zum Verständnis ihrer Gattung, und damit ihrer selbst verhelfen, und er tut dies mit einer heutzutage zunehmend raren Begabung: Humor, verbunden mit Verstand, Toleranz Ehrlichkeit, aber ohne Moralin, ohne hohle Pose… Nein? Ich gebe es auf. Ich wollte eigentlich wie folgt anfangen: Meine Frau fragt mich: «Hast du gehört, in den USA soll die Originalversion von «Tom Sawyer» ab sofort verboten sein?» ? «Du verstehst, im Buch wird von «Niggern» gesprochen. Und das ist politisch nicht korrekt.» In solchen Momenten kann meine Frau umwerfend (ich meine das wörtlich) harmlos wirken. Es denkt mir. Sie erinnern sich vielleicht, dass ich Ihnen erzählt hatte, Max Neuhaus – der amerikanische Künstler, der in der Lorraine in Bern «die Klangbrücke» geschaffen hatte und vor kurzem verstorben ist – habe mir, auf politische Korrektheit angesprochen, gesagt: «Du weisst ja, politische Korrektheit ist eine der aktuellen Formen von Faschismus.» Die USA gehen wieder einmal voran, wir werden natürlich folgen: Es wird nicht allzu lange dauern, bis hier der Paulusbrief an die Epheser verboten wird; in Epheser 5, Vers 22, schreibt nämlich Paulus fast päpstlich: «Ihr Frauen, seid untertan euren Männern wie dem Herrn! Denn der Mann ist das Haupt der Frau wie auch Christus das Haupt der Kirche ist…» Vielleicht wird die ganze Bibel verboten, falls sie nicht politisch korrekt umformuliert wird, oder wenigstens das Neue Testament. Und «Faust» gehört auch verboten. Dort lässt Goethe Gretchen sagen: «Bin weder Fräulein, weder schön / kann ungeleit nach Hause geh’n.» Sie werden entgegnen, dass bis ins achtzehnte oder neunzehnte Jahrhundert «Fräulein» als Titel dem Adel vorbehalten war. Na, und? Walter von der Vogelweide gehört auch verboten, beginnt doch der Kerl eines seiner Lieder: «Herzliebes frouwelîn / got gebe dir hiute und jemer guot!», und in einem anderen gar: «Nemt, frowe, disen kranz», «alsô sprach ich zeiner wol getânen maget…» – Alle Texte des Minnesangs: auf den Scheiterhaufen! Statt Erstaugustfeuer Bücherverbrennung weltweit und tagtäglich, wenn auch eher, der ästhetischen und rituellen Wirkung wegen, des Nachts! Pfeift auf den dadurch erhöhten CO2-Ausstoss! Denken Sie an den – Auftrieb der Dreissigerjahre des letzten Jahrhunderts, etwas weiter nördlich. Der Gewinn weltweiter Reinheit ist kostbar! Eingedenk des Sachverhaltes, gemäss neuester Erkenntnis: «Dirn» anstatt «Fräulein» (weil der Adel – ich spreche nicht von der Geldaristokratie – in der Eidgenoss/genössinnenschaft fast keine Rolle mehr spielt), und das «Dirndl» ist ja nicht wirklich die Uniform von Prostituierten? Zum Spass (?) habe ich rasch bei Google hineingeguckt, nachdem ich «Fräulein» eingegeben hatte: Wikipediaeintrag: «fräulein: litterally «little woman» or «little Mrs.» is German language horrific (hier fehlt m. E. das Prädikativ, aber ich äussere mich höflicherweise nicht über den Satzbau) previously used for unmarried women (die haben glücklicherweise nie von «woe man» = «woman» gehört…), comparable to Miss in English…». Gut, ein Phänomen ist sprachgeschichtlich ziemlich bekannt: je eingeschränkter (nein: nicht «präziser»!) im Verlauf der Zeit die Bedeutung eines Wortes wird, um so konsequenter gehen die positiven Wortbedeutungen des Ausdruckes verloren, und es verbleiben die negativen. Eben, z. B. Dirne / Dirn oder Magd und so weiter. Ich frage mich, was etwa ein Psychiater (oder eine Psychiaterin) zu dieser Charakteristik kollektivgeistiger Entwicklung sagen möchte. Aber eigentlich geht es mir hier weniger um seit Urzeiten flächendeckenden Pessimismus oder die immer salonfähiger werdende Dummheit, die – auch – hinter solchen Bemühungen politischer Korrektheit zu stehen scheint. Darüber könnte man sich getrost lustig machen. Nicht aber darüber, was eigentlich dahinter steckt. Ich versuche zu illustrieren: Vielleicht ist Ihnen im Moment nicht gegenwärtig, dass die Kapitäne (es waren ausschliesslich Männer) der Sklavenschiffe als gottesfürchtige, pflichtbewusste, zuverlässige und mutige Christen galten, wie beispielsweise auch die Besitzer von Baumwollplantagen in den Südstaaten Amerikas. Die Bäuche ihrer Schiffe waren vollgestopft mit zunehmend stinkenden Sklavinnen, viele davon vorgängig vergewaltigt und geschwängert, und Sklaven, vorgängig häufig frisch kastriert, viele krank oder in den Ketten sterbend, alle im eigenen Kot und hungernd. Auch wenn nur ein verhältnismässig kleiner Teil dieser «Nigger» in Amerika mit voller Arbeitskraft auf die Baumwollplantagen gelangten, war die Rendite immer noch mehr als ausreichend, denn, wo diese Schwarzen herkamen schien die Quelle kaum versiegen zu können; und die Gentlemanfarmer brauchten Arbeitskräfte, welche die aus ihrer Sicht unerträglichen Temperaturen ohne Einbusse an Leistung verkraften konnten. Wie man das mit der christlichen Moral vereinbaren konnte? Ganz einfach: man überzeugte sich generell, dass es sich bei Niggern nicht um Menschen handelte, und über die Würde von Nutz- und Haustieren wird beispielsweise hier auch erst seit recht kurzer Zeit gesprochen, bisweilen. (Sind Sie je einem südwärts fahrenden Lastwagenzug mit Schlachtschweinen auf einer italienischen Autobahn begegnet?) – Als sich bei der Botschaft der Schweiz in Washington vor ein paar Jahren eine Mitarbeiterin mit schönem Zürcherakzent am Telefon mit «Heiniger» meldete, hängte der Anrufer auf, und die Botschaft bekam ein Problem. «Hi, nigger» ist eine Beleidigung, «nigger» ein Unwort. Verständlich. Wer möchte denn unterprivilegiert sein? Nur: ein anderer Wortgebrauch ändert strukturell die von Privilegierten als bequem betrachtete Schichtung der Leute in Privilegierte und «Wenigerprivilegierte» leider nicht. Es tönt nur so. Nach wie vor sind Frauen in den Teppichetagen untervertreten; dass die Putzfrau jetzt «Raumpflegerin» heisst, ändert an ihrem Status nichts; dass der Fremdarbeiter später Gastarbeiter und nun Migrant benannt wird, ändert weder an seinem Stellenwert in der Gesellschaft noch an der latenten Fremdenfeindlichkeit etwas. Die (unbewusst?) geförderten Euphemismen sind natürlich wirkungslos, wenn auch sichtbar. Die Aufforderung, dass sich Schreibende bei jedem Satz darauf besinnen, über oder an wen sie schreiben, könnte mit der Zeit zu Gesinnungs- und Verhaltenswandel führen, vielleicht. Der automatisch gesetzte Schrägstrich zwischen «Arbeiter» und «in» führt zu gar nichts: politische Korrektheit als Tarnkappe für praktizierte, wirkungsorientierte Diskriminierung. In den USA wird «Tom Sawyer» sicher, wie einst «Ulysses» von James Joyce, verboten. Ob es den Afroamerikanern, Soshonen, Mexikanern deshalb besser gehen wird? Führerin befiehl, wir folgen!
Foto: zVg.
ensuite, März 2011