Von Peter J. Betts — Es ist nur ein Denkmodell; die historischen Realitäten werden (wie üblich nach dem Motto «Geschichte ist ein Frisiersalon») willkürlich als mehr oder weniger bewegte Bilder verwendet, nicht weniger willkürlich sind die gewählten Zeitsprünge und das Timing überhaupt. Nur ein Denkmodell: Ein Knecht, kurz nach der Erfindung des Rades und nachdem man beispielsweise mit der Brechstange, vielleicht ohne theoretischen Hintergrund, eine Ahnung von den Hebelgesetzen umzusetzen begonnen hatte, musste Tag für Tag vom Morgen bis zum Abend einen Kübel oder eine Schaufel oder zwei Handvoll Erde, Sand oder Kies vom Erde‑, Sand‑, oder Kieshaufen dorthin tragen, wo Bedarf war. Fast eine ausfüllende Lebensaufgabe. Und sehr viele Knechte waren nötig, damit das – Bauprojekt in nützlicher Frist vollendet werden konnte. Unser Knecht war nicht nur faul, sondern auch phantasievoll. Erst versteckte er sich unter einem Haselstrauch, kaute einen Grashalm, blickte den Wolken nach und dachte. Dann schlich er sich weg, klaute irgendwo ein Rädchen, klaute einen grossen Blechkübel und Holz und einen Eisenstab, sägte, hämmerte, hobelte, feilte, schwitzte dabei wie beim Sandumhertragen, aber ohne dass er darunter litt, und am Abend hatte er den Schubkarren erfunden. Beim Abendappell schimpfte der Aufseher, verwehrte dem Säumigen das Abendbrot; aber, bevor er die neunschwänzige Katze zum Einsatz brachte, lächelte der kreative Faulpelz – er besass so viel Charme, dass er selbst Aufseher um den Finger wickeln konnte – und sagte: «Herr, bevor Sie sich mit der Peitsche überanstrengen, möchte ich Ihnen etwas zeigen.» Er hatte Glück: der Aufseher war mindestens so neugierig wie sadistisch, und die Hiebe hob er sich daher für später auf. Der faule Knecht schob, begleitet vom Aufseher, den Schubkarren zum Haufen, füllte ihn im Nu mit Erde, Sand oder Kies, rollte ihn zur Baustelle hin, kippte den Schubkarren: der Aufseher erkannte, dass der Faulpelz innerhalb einer Viertelstunde zehn Tagessolls vollbracht hatte. Er verzichtete auf die Prügel, dachte, der knurrende Magen würde Strafe genug sein. Während der Knecht mit Magenschmerzen von Haselsträuchern und Wolken träumte, träumte der Aufseher von Karriere. Die nachhaltige Katastrophe nahm ihren Anfang. Der Fünfzehnstundentag der Knechte wurde nicht bei gleichbleibendem «Lohn» auf sechs Stunden reduziert: vier Fünftel der Knechte wurden auf die Strasse gestellt und verhungerten. Dann begann auch der künftige Hausbesitzer zu träumen. Die Katastrophe weitete sich exponentiell aus. Der künftige Hausbesitzer erkannte, dass er bei vergleichbarem Aufwand sechshundert Häuser bauen konnte. Da es viele Hungernde gab, waren für ihn die bereits Verhungerten kein Verlust. Er holte genügend Halbverhungerte von der Strasse. Der Faulpelz musste Schubkarren auf Teufel komm raus bauen: Sechzehnstundentag zu halbem Lohn (sein Ungehorsam verdiente nach wie vor Strafe). Die neuen Häuser wurden teuer verkauft. Die Aufsehergewerkschaft vertrieb erst im näheren, dann im weiteren Umfeld die – Bevölkerung aus ihren Laubhütten. Schritt für Schritt liess der Hausbesitzer oder Immobilienhändler auf seinem, stetig wachsenden Land ein Villenquartier erstehen und wurde zum Stadtpräsidenten gewählt. Der Aufseher, der einst zur See gefahren war, wurde CEO der Schubkarrenfabrik und mit der Goldmedaille für Innovation ausgezeichnet. Alle Villenbesitzer waren Aktionäre der Schubkarrenfabrik. Der Wert der Aktien stieg. Der Schubkarrenerfinder wurde erst in die Gruppe der Fabrikreiniger strafversetzt, dann fristlos entlassen. Eine wunderschöne Stadt, später ein Weltkulturerbe, entstand, wo einst Wälder mit Laubhütten gewesen waren. Der Immobilienhändler, Fabrikbesitzer und Stadtpräsident ersann beim Mittagsschlaf eine neue Heilslehre, die auf der ganzen Erde ihren Siegeszug antrat. Das Dogma vom unbegrenzten und stetigen Wachstum war die zentrale Stütze dieser neuen Kultur. Die Kultur (wie es sich im Idealfalle überall und immer gehören würde) war Grundlage seiner Politik, aber was für eine. Eine Schar von Statistikerinnen lieferte ihm für jede beliebige für seine Zwecke nötige Behauptung die jeweils nötigen zahlenmässigen Beweise. Es gab keine zahlenmässig unbewiesenen oder unbeweisbaren Behauptungen mehr. Statistik wurde zur Staatsreligion erklärt. Diese Politik war erfolgreich. Und folgenreich. Weltweit. Natürlich erhielt der Immobilienpräsident für seine Verdienste an der Menschheit jede erdenkliche Auszeichnung. Wenn er im Schlaf rülpste, roch es nach sehr edlem Cognac. Der faule Knecht hatte sich in eine Höhle verzogen, weit weg von der Stadt. Er betrachtete seine Fingerspitzen. Beim einstigen Sand‑, Kies- und Erdtransport, bevor er den Schubkarren erfand, waren ihm sämtliche Fingernägel abgebrochen oder ausgerissen worden; sie waren nie mehr nachgewachsen. Die Aufseher hatten seinesgleichen immer verlacht mit dem Ausspruch: «Schon wieder einer mit Fingerspitzengefühl!». «Wenn ich Idiot nur nie diesen blöden Schubkarren erfunden hätte!», dachte er. Nein, nein, er badete nicht in Selbstmitleid. Auch sehnte er sich nicht nach der einstigen Tätigkeit. Er litt unter Schuld. Und er dachte: «Die gleiche Intelligenz, die es uns möglich macht, beispielweise am fünfzigsten Breitengrad verhältnismässig leichtbekleidet zu leben, zerstört unsere Lebensgrundlage.» Was er sich von seiner Erfindung erhofft hatte, war, dass sie ihm und anderen ermöglichen würde, nicht seine oder ihre ganze Kraft, Energie mit einer drögen Beschäftigung verbringen zu müssen; dass ihm (und anderen) nach dem Erbringen des Solls Kraft, Energie, Lust, Empathie, Neugier übrig bleiben würde zu leben. In Würde, vielleicht. Im Einklang mit der Welt, vielleicht. Dass dieses Leben für ihn und alle anderen auch Sinn bergen würde über das jeweilige Opfer aller zehn Fingernägel hinaus. Dass Arbeit allen zugute kommen sollte. Und dann erträumten sich der Hausbesitzer und der CEO der Schubkarrenfabrik gleichzeitig das Sprichwort «Zeit ist Geld», als dessen Quelle die Aussage von Theophrast (372–287 v. Chr.), Zeit sei eine kostbare Ausgabe, vermutet wird. Der Schritt zu «Geld ist Macht» war klein. Und irgendwie kann auch «Machet euch die Erde Untertan» hineingelesen werden. Und so gab es dann immer mehr hungernde Entlassene, und immer reichere Immobilienhändler und CEOs. Und lauthals wurde von hohen Türmen herab und aus Fernsehkästen heraus das Credo der Kultur des unbegrenzten Wachstums geleiert. Niemand hörte hin. Niemand unternahm etwas dagegen. Die Menschen waren nun in drei Klassen aufgeteilt: zwei zahlenmässig sehr kleine Klassen, jene der Immobilienhändler und jene der Aufseher; eine zahlenmässig riesige, aber machtlose Klasse: die Hungernden. Die Immobilienhändler hatten sich alle Rechte über vorhandenes Wasser erworben. Nicht nur die Hungernden dürsten, sondern auch das Land, zunehmend versteppt neben den blühenden Gärten der Immobilienhändler und Aufseher. Die Schuld trug der Faulpelz, der den Schubkarren erfunden hatte. Nun, die Geschichte vom Schubkarrenerfinder ist ein Märchen; das heisst nicht, dass sie nicht wahr ist. Die Geschichte vom unbegrenzten Wachstum ist auch ein Märchen. Ein schlechtes.
Foto: zVg.
ensuite, November 2010