• zurück

Etwas gegen den Wind

Von Simone Weber — Etwas Gutes haben die Jahreszeit­en in unseren Bre­it­en­graden. Wir kön­nen mal leichte Klei­d­chen tra­gen, schwere Män­tel, Schals und Flipflops, mal Wollmützen und Son­nen­hüte, kurze Led­er­jack­en, Pon­chos, Shorts und Blue­jeans. Obwohl die Mode immer weniger dazu da ist, uns vor Hitze, Kälte, Regen oder Wind zu schützen, bieten die Launen des Wet­ters, bes­timmt durch eben jene Jahreszeit­en, Anlass zu modis­ch­er Abwech­slung. Nun gibt es beson­ders an herb­stlichen Tagen wie diesen ein ganz beson­deres, kurzes Zeit­fen­ster. Es sind die weni­gen Tage, an denen der Win­ter­man­tel noch zu warm, das Wet­ter aber zu nass und windig für Som­merklei­dung ist. Es ist die Zeit der Über­gangsklei­dung. Sie ist nicht ger­ade an ein Hoch von Gefühlen gekop­pelt. Wir lieben warme Som­mertage, weshalb wir auch das kurze Hosen oder eine dünne Tuni­ka lieben. Wir vergöt­tern den weichen, wär­menden Schal aus Meri­nowolle eben­so wie den mit Schaf­fell gefüt­terten Kapuzen­man­tel, weil sie toll ausse­hen, uns dick umhüllen und Wärme und Gemütlichkeit spenden, wenn wir durch Schneewe­hen stapfen. Der Anorak hat es da weniger leicht Sym­pa­thie zu gewin­nen. Wir ken­nen ihn als typ­is­che Über­gangs­jacke, als Lück­en­büss­er sozusagen. Er muss deshalb beson­ders hart um Anerken­nung und Anse­hen kämpfen. Ist doch eigentlich ungerecht. Denn ursprünglich wurde er aus der Notwendigkeit zu über­leben erfun­den.

Der tra­di­tionelle Anorak, dessen Geburts-ort in Grön­land liegt, wurde von den Ure­in­wohn­ern aus Robben­fell genäht. Er diente dem Schutz vor Kälte. Das Wort selb­st find­et seine Wurzeln im Kalaal­lisut, der Sprache der west­grön­ländis­chen Inu­it. «An-nuh-raaq», wie die Jacke dort genan­nt wird, bedeutet wörtlich über­set­zt «etwas gegen den Wind». Die Inu­it tru­gen das Klei­dungsstück als Wind- und Wet­ter­schutz beim Kajak­fahren. Die Anorak-Jack­en hat­ten Kapuzen, die aus wun­der­schö­nen, glänzen­den Wolfs­fellen gefer­tigt wur­den und die hüb­schen, von Kälte und Wind geze­ich­neten Gesichter der grön­ländis­chen Ein­wohn­er umsäumten. Der Wolf­spelz diente jedoch nicht ästhetis­chen Zweck­en, von ihm liessen sich Eis und Schnee beson­ders leicht ent­fer­nen.

Die Skan­di­navier kopierten den Anorak von den Inu­it. So fand er 1936 seinen Weg zu den Olymp­is­chen Spie­len in Garmisch-Partenkirchen, wo er sich als Sport­jacke der Öffentlichkeit präsen­tierte. Marken­ze­ichen des Anoraks ist sei­ther seine Wet­ter­fes­tigkeit. Natür­lich gibt es ihn auch heute noch mit Fell an der Kapuze, aus Robben­haut und Wolf­spelz wer­den Sie jedoch kaum einen find­en. Inzwis­chen wird der Anorak aus wasser­ab­weisen­dem Kun­st-
stoff hergestellt. Noch heute kom­biniert er den Schutz vor dem Wind mit ein­er war­men Füt­terung, die uns in kalten Tagen wärmt und so Gemütlichkeit schenkt. Die Jacke wird mit echt­en Daunen für eine opti­male Iso­la­tion, oder aber mit syn­thetis­chen Holofil­fasern gefüllt, die beson­ders schnell trock­nen. Es gibt den Anorak aber auch als leichte Wind­jacke, den so genan­nten «Wind­break­er». Er beste­ht aus den mod­ern­sten Mate­ri­alen, die den von Out­door­f­reaks geliebten extremen Bedin­gun­gen prob­lem­los stand­hal­ten. Die heuti­gen Mod­elle ermöglichen die Iso­la­tion der Kör­per­wärme, und gle­ichzeit­ig das Entwe­ichen der Feuchtigkeit nach draussen, so dass der Träger sich run­dum wohl fühlt, selb­st bei erhe­blich­er sportlich­er Anstren­gung. Ganz öff­nen lässt er sich nicht, er ist eine Schlupf­jacke, deren obere Vorder­seite ide­al­er­weise mit einen Reissver­schluss oder Knöpfen geöffnet und geschlossen wer­den kann. Manche haben auch einen weit zu öff­nen­den Kra­gen, damit sie noch bess­er gegen Kälte und Wind schützen. Beson­ders prak­tisch ist seine Kapuze, ohne die der Anorak kein Anorak wäre. Der Klas­sik­er ist stolz­er Träger von zwei prak­tis­chen, grossen Aussen­taschen, in denen blauge­frorene Hände wohlig gewärmt wer­den kön­nen.

Manche mögen den Anorak aus modis­ch­er Sicht als War­m­dusch­er beze­ich­nen. Als lang­weilig und un-chic. Ein modis­ches Under­state­ment ist ihm nicht abzussprechen. Dafür ist sein Inneres wertvoll – und das Äussere zeit­los. Beson­ders schön ist er im Par­ka-Stil, mit ein­er grossen, weichen, fell-gefüt­terten Kapuze. Die bon­bon­far­bene Zeit hat die Jacke glück­licher­weise hin­ter sich gebracht, heute gibt es sie in dezen­tem Schwarz, Dunkel­blau und Grün. Geben wir dem Anorak doch eine Chance: wenn er schon ein Lück­en­büss­er ist, dann ein­er mit stolz erhoben­em Haupt, weil er sich gegen tobende Herb­st­stürme, gegen peitschende Regengüsse und fal­l­ende Tem­per­a­turen mutig vor uns stellt.

Foto: zVg.
ensuite, Okto­ber 2011

 

Artikel online veröffentlicht: 20. Februar 2019