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Expandierte Schocksekunde und Psycho-Oper

Von Mariel Kreis — Die klas­sis­che Musik des 20. Jahrhun­derts wird häu­fig nur mit der atonalen und dis­so­nan­ten «Katzen­musik» assozi­iert. Doch nach der Jahrhun­der­twende gibt es neben Kom­pon­is­ten wie Arnold Schön­berg auch einen Béla Bartók, einen Igor Straw­in­sky, einen Erich Wolf­gang Korn­gold, die mit ihrer neuen Musik­sprache andere Wege ein­schla­gen. Eine Annäherung an die Kom­po­si­tion­sweisen von Arnold Schön­berg und Erich Wolf­gang Korn­gold, welche bei­de das damals neu erforschte Phänomen der Psy­cho­analyse ver­tont haben, bringt uns zurück in die Gefühlswelt zu Beginn des let­zten Jahrhun­derts.

Den Gefühlen freien Lauf lassen In den Anfän­gen der Operngeschichte stell­ten Kom­pon­is­ten Gefüh­le — ob tragisch oder komisch — immer in ein­er «schö­nen» Form dar. Die Vorstel­lung, einen Schock­zu­s­tand oder Angst mit wohlwol­lend schön klin­gen­den Har­monien beschreiben zu wollen, kann dur­chaus para­dox erscheinen. Doch die Kon­ven­tio­nen, denen sich ein Opernkom­pon­ist wie Clau­dio Mon­tever­di um 1600 zu beu­gen hat­te, liessen keine grosse har­monis­che Frei­heit zu. Ganz anders in der zeit­genös­sis­chen klas­sis­chen Musik. Eine mod­erne Oper ist vielle­icht nicht ger­ade ein Ohren­schmaus für unsere har­moniebedürfti­gen Ohren, doch die Authen­tiz­ität, mit welch­er uns diese Musik begeg­net, ist beein­druck­end. Den Gefühlen freien Lauf lassen, heisst die Devise der musikalis­chen Mod­erne zu Beginn des 20. Jahrhun­derts.

«Studie über Hys­terie» und die «Traumdeu­tung» In seinem Werk «Die Studie über Hys­terie» beschreibt Sieg­mund Freud die Ein­sicht, dass der Men­sch von unbe­wussten Triebkräften beherrscht wird, welche sein Han­deln stark bee­in­flussen. Der Men­sch ist unfähig, diese zu beherrschen; das Unter­wusste kann deshalb unge­wollt an die Ober­fläche gelan­gen. In der «Traumdeu­tung» schreibt Freud, dass das «moralis­che Ich» nicht-zuläs­sige Wün­sche ins Unter­be­wusst­sein schiebt, welche aber in Träu­men — da im Schlaf der Ein­fluss des Bewusst­seins ver­min­dert ist — in ver­schlüs­sel­ter Form wieder auftreten. Freud ist jedoch nicht der erste, der sich mit den Phänome­nen unter­halb des Bewusst­seins beschäftigt. 1891 entwirft Her­mann Bahr in dem Text «Die neue Psy­cholo­gie» ein Pro­gramm, welch­es beschreibt, was die Kun­st zur Psy­cho­analyse beis­teuern soll: The­ma­tisieren, was sich in der Psy­che abspielt und in Worten nur schw­er zu fassen ist.

Ein langer Schock­mo­ment Im Gegen­satz zur Sprache gelingt es der Musik bess­er, in die «Fin­ster­n­is der Seele» einzu­drin­gen. Extrem­stes Beispiel hier­bei ist wohl Arnold Schön­bergs «Erwartung» aus dem Jahre 1909: Ein Werk für Sopran und Orch­ester, welch­es rund dreis­sig Minuten die Aus­dehnung ein­er einzi­gen Sekunde total­en Schock­zu­s­tands doku­men­tiert. In einem 17-tägi­gen Schaf­fen­srausch kom­poniert der Wiener das Mon­odram nach einem Text von Marie Pap­pen­heim: Eine Frau irrt in der Nacht durch einen Wald auf der Suche nach ihrem ver­mis­sten Geliebten. Dabei durch­lebt sie Gefüh­le wie Angst, Eifer­sucht, Wut. Plöt­zlich stolpert sie über dessen Leiche.

So wie der Text pro­tokol­liert auch die Musik das Innen­leben der Pro­tag­o­nistin ohne Rück­sicht auf ein ästhetis­ches Resul­tat. Das Werk ist zu dieser Zeit radikal neu, mit ein­er bis anhin noch nie gehörten Musik­sprache. Die Musik nimmt kein­er­lei Rück­sicht auf Kon­ven­tio­nen, ist auss­chliesslich an das Hier und Jet­zt gebun­den und völ­lig form­los. Es find­en sich kein­er­lei Wieder­hol­un­gen, keine Sym­me­trien, keine Rück­griffe. Jed­er Takt ist neu und anders.

Erich Wolf­gang Korn­gold: Wun­derkind der Mod­erne Erich Wolf­gang Korn­gold ist das gefeierte Wun­derkind der Jahrhun­der­twende. Seine Jugendw­erke wer­den in den Him­mel gelobt und find­en rasch Ein­gang ins Konz­ertreper­toire. Im Gegen­satz zu Arnold Schön­berg kom­poniert Erich Wolf­gang Korn­gold im Stile eines Richard Wag­n­ers, knüpft also an der Tra­di­tion der Spätro­man­tik an. Während des 2. Weltkriegs wird er von den Nazis aus Europa ver­trieben und arbeit­et anschliessend in Hol­ly­wood als Film­musik-Kom­pon­ist für Warn­er Broth­ers. Im Jahre 1937 erhält er für seine Musik zum Film «Antho­ny Adverse» sog­ar einen Oscar. Umso erstaunlich­er, dass sein Oeu­vre noch zu Lebzeit­en wieder in Vergessen­heit gerät!

Ver­weigerte Trauer­ar­beit Mit 23 Jahren kom­poniert der junge Erich seine dritte Oper: «Die tote Stadt», das wohl bekan­nteste und erfol­gre­ich­ste Werk Korn­golds.

Korn­golds Pro­tag­o­nist kann sich von sein­er ver­stor­be­nen Frau nicht lösen, da er es als Sünde betra­chtet, wenn er eine neue Liebe fände. In der Sän­gerin Mari­et­ta will Paul seine wieder aufer­standene Gat­tin erken­nen und recht­fer­tigt so die ent­fachte Lei­den­schaft zu der Tänz­erin. Pauls Kon­flikt ist das pla­gende Gewis­sen auf der einen, seine eigentliche Lebenslust auf der anderen Seite. Wegen grossen Gewis­sens­bis­sen und Verspot­tung durch Mari­et­ta kann sich Paul nicht mehr beherrschen und erwürgt sie; dies geschieht jedoch alles nur im Traum. Nach dem Erwachen kommt die Ein­sicht, da er begreift, wie sich sein fanatis­ches Fes­thal­ten an der Ver­gan­gen­heit auswirken kön­nte. Er kann seine Trauer über­winden und ist geheilt.

Korn­gold übergibt dem Orch­ester die Auf­gabe, Unaussprech­lich­es und Unter­be­wusstes auszu­drück­en, da Paul sich das sel­ber ver­wehrt. Die expres­sion­is­tis­che Ton­sprache ist geprägt von zwei Motiv­en, die durch das ganze Werk immer wieder auftreten: Die Lebenssehn­sucht ein­er­seits, Reuege­füh­le gegenüber der Ver­stor­be­nen ander­er­seits.

Bild: Die tote Stadt, Opern­haus Zürich / Foto: zVg.
ensuite, Sep­tem­ber 2009

Artikel online veröffentlicht: 10. September 2018