Von Peter J. Betts — Extinktion, Exklusion, Segregation, Integration, Inklusion sind Ausdrücke für unterschiedliche Kulturen unterschiedlicher Verhaltensnormen von – Gemeinschaften. Vor ein paar Wochen – rechtzeitig auf den Abstimmungssonntag vom 22. September ’13 hin – zirkulierten unter Kuhglockenklängen während des Samstagmarktes von schweren Traktoren gezogene, geschmückte Erntewagen mit gestandenen Frauen in Berner-Tracht darauf durch die Schauplatzgasse und wohl durch die Bundesgasse zum Casinoplatz und dann zum Bundesplatz zurück, wo sich vor der nächsten Runde ein imposanter Wagenpark präsentierte. Heimatgefühl in Reinkultur. Ein verspäteter Auftakt zum Erntedankfest? Land grüsst Stadt? Rekrutierungsversuch eines einfallsreichen Jodlerchors? Auf dem Bundesplatz näherte ich mich höflich einer dieser Damen, fragte sie, ob ich sie etwas fragen dürfe. Ich erkundigte mich nach der Absicht der Performance. Erleichtert drückte sie mir ein Flugblatt in die Hand, setzte sich gemütlich wieder auf ihrer Harasse zurecht und lächelte ihrer Nachbarin zu. Oben auf dem Flugblatt ein Foto von Zaffaraya: einer kleinen, farbenfrohen Wohnwagenburg, die witzig verfremdete Piratenfahne verdeckt einen sehr, sehr kleinen Teil der ordentlichen Schrebergartenanlage am Waldrand, dazwischen grün, im Vordergrund ein ungeteertes Fahrsträsschen. Darüber in schwarzer Druckschrift: «Hüttendorf-Zone», und darunter gross, rot in Pseudo-Handschrift: «Nein Danke!» «Das Komitee Hüttendorf-Zone Nein Danke!» und «NEIN zum Zonenplan Riedbach!» wird von sieben politischen Parteien und elf Vereinigungen oder Organisationen aus der Stadt unterstützt. Das Antihüttendorfkomitee versucht beispielweise als einen seiner Gründen zur Ablehnung der Pläne von Gemeinde- und Stadtrat auch die Haltung der Zaffarayaner selber zu instrumentalisieren. Zitat: «Entgegen dem Ziel der Abstimmung wird das Zaffaraya weder von einem Umzug nach Riedbach betroffen sein, noch zonenkonform werden. Die Stadtnomaden wollen selber nicht nach Riedbach und haben angekündigt, bei einer Annahme der Vorlage Flächen erst recht illegal zu besetzen.» Der Scharfrichter behauptet, im eigentlichen Interesse des zu Köpfenden zu handeln? Eine weitere Perle: «Hüttendorf wertet Berns Westen wegen Sonderwünschen einer Minderheit ab.» Übrigens: kann man «Westside» noch abwerten, wenn man an den dortigen Monster-Verkaufs-Unterhaltungs-Restaurations-Sport-Erholungskomplex des internationalen Stararchitekten denkt? Der Bau ist alles andere als ein liebes Kind. Noch vor nicht allzu langer Zeit war übrigens das so wertvolle überbaute Gebiet Landwirtschaftszone. Das Komitee hatte sich nicht direkt für Extinktion der Stadtnomaden eingesetzt; das kann man zur Zeit in der Schweiz nicht bringen: es erinnert zu direkt etwa an die Nazi-Zeit in Deutschland. Man trennt also nicht expressis verbis lebenswertes und nicht-lebenswertes Leben. Man begnügt sich mit Exklusion, dem Ausschliessen von nicht akzeptierten, nicht genormt-bürgerlichen, nicht konformen Lebensweisen. Während die Absicht hinter der Abstimmungsvorlage eine Mischform von Segregation, dem Aussondern, dem Separieren des Normalen und Alternativen dazu, und Integration, dem Eingliedern, dem Zusammenfügen von ehemals Getrenntem, ein Nebeneinander vorsieht. Erstaunlicherweise wurde dann am Abstimmungssonntag die Vorlage doch nicht abgelehnt. Mit der angenommenen Vorlage lässt man sich auf ein schwieriges Unterfangen, ein Abenteuer ein, das aber durchaus gute Früchte zeitigen könnte. Auch wenn Zaffaraya nicht mitmacht. Will man gemeinsam in Frieden leben, setzt bereits Segregation gegenseitig Toleranz voraus, man erinnere sich etwa an den euphemistischen Begriff der «Friedlichen Koexistenz» während des so genannten Kalten Krieges. Konflikte sind natürlich vorprogrammiert: Integration setzt ebenfalls und noch glaubwürdigere gegenseitige Toleranz voraus und trägt vielleicht auf einem steinigen Weg zu einer Verbesserung des Ganzen bei. Gemeinsam von Verschiedenartigem nebeneinander zu leben, setzt gegenseitigen Respekt voraus, das gegenseitige Achten von Verschiedenem – ohne Missionierungsversuche; denken Sie etwa an das Verhüllungsverbot, das an eben diesem 22.September ’13 der Kanton Tessin beschlossen hat. Beim Problem Stadtnomaden-NormbürgerInnen könnte das in Zukunft noch anzustrebende Ziel Inklusion lauten. Eine Woche nach dem Umzug der vielfältig geschmückten Traktoren stehe ich in der Schauplatzgasse vor dem Stand mit gedörrten Früchten. Ein Mann, der mir irgendwie bekannt vorkommt, dessen Namen ich aber nicht nennen könnte, drückt mir einen Faltprospekt in die Hand, mit den Worten: «Das könnte Dich interessieren.» Ihm bin offenbar auch ich irgendwie bekannt vorgekommen. Der Prospekt lädt zum Besuch des FICE–Kongresses anfangs Oktober in Bern ein. FICE ist die französische Abkürzung für «Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen»;diese ist übrigens seit 1948 politisch und religiös neutral. Das Thema des Kongresses lautet: «Inklusion – Eine Herausforderung für uns alle!» Nun, die Begriffe: Extinktion, Exklusion, Segregation, Integration, Inklusion werden in pädagogischen Kontexten verwendet; aber, wie der kleine Text hier veranschaulichen mag, nicht nur. Die fünf Begriffe bilden ein Pentagramm für eine Sichtweise, die zum Verständnis vieler Umgangsformen einer wie immer definierten «homogenen» Gesellschaft beitragen könnten. Es geht grundsätzlich um das Verhalten einer Gruppe zu «den/dem Anderen». Das Komitee «Hüttendorf-Zone Nein Danke» ist gegen Gruppen von Menschen, die deutlich und sichtbar anderen Werten als sie folgen. Es sind vielleicht Menschen, die Littering betreiben, das höchste Ziel nicht in einem Einkommen in Milliardenhöhe sehen, keine Acht-bis-siebzehnuhr-Mentalität haben, nicht täglich duschen, nicht ihre Profilierungsneurosen in Parlamenten pflegen, andere Machtstrukturen kennen. Wie sieht es bei uns aus für StellenbewerberInnen mit «Migrationshintergrund»? Was denkt die Freie Theaterszene über das Stadttheaterbiotop und umgekehrt? Wie schätzen seriös Arbeitende Kulturschaffende ein? Wie Kulturschaffende seriös Arbeitende? Von welcher Prozentzahl an bedrohen Flüchtlinge die Zukunftssicherheit der Nation? Was sollen geistig Behinderte im normalen Klassenverband? Wie sind Frauen in den Augen von Männern? Kann man von «den Frauen» oder «den Männern» reden? Sind wir am sichersten unter uns? Was braucht es, dass du zu uns gehörst? Wenn wir alle Bauten behindertengsgängig bauen, werden sie für uns unbezahlbar, und wir können sehr viel seltener in die Karibik reisen? Ist Behinderung eine Last? Brauchen wir alle eigentlich so etwas wie eine «Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfe», eine FICE, um unser aller realer Alltag zu ermöglichen? FICE nicht nur für den Schulbetrieb? Wieder ein Zitat, diesmal aus einem Fachtext: «Die Forderung nach sozialer Inklusion ist verwirklicht, wenn jeder Mensch in seiner Individualität von der Gesellschaft akzeptiert wird und die Möglichkeit hat, in vollem Umfang an ihr teilzunehmen. Unterschiede und Abweichungen werden im Rahmen der sozialen Inklusion bewusst wahrgenommen, aber in ihrer Bedeutung eingeschränkt oder gar aufgehoben.» Extinktion, Exklusion, Segregation, Integration, Inklusion sind Ausdrücke für unterschiedliche Kulturen unterschiedlicher Verhaltensnormen von – Gemeinschaften. Aus der Einsicht heraus, dass alle Menschen, unabhängig von ihrer Eigenart, gerade dank dieser Eigenart das Leben Aller bereichern, wäre Inklusion wohl für jede Menschengruppe die sinnvollste Verhaltensweise. Eine Einsicht in ein kulturelles Ziel, das zu lernen wohl auch dem Komitee «Hüttendof-Zone Nein Danke» möglich sein könnte.
Foto: zVg.
ensuite, November 2013