Von Hanspeter Künzler — Femi Kutis Vater Fela war eine Einmann-Aktionstruppe, die Afrika im Allgemeinen und Nigeria im Besonderen vom kombinierten Joch von Korruption, Verlogenheit und Armut zu befreien versuchte. Seine Waffe war die Musik, eine facettenreiche Fusion von Jazz, Rhumba, Hi-Life, psychedelischem Rock und allerhand Zutaten aus den diversen Folk- und Popmusikstilen Nigerias. «Afrobeat» nannte er die Melange, die er fast täglich im eigenen Konzertlokal «The Shrine» unter die Menschen brachte.
Vom Shrine aus steuerte Fela all seine Aktivitäten, hier wurden er und seine Grossfamilie auch des öfteren Opfer von brutalen Attacken durch die Polizei und das Militär. Im August 1997 starb Fela. Seither wird sein kreatives Erbe von zwei Söhnen gepflegt. Der jüngere, Seun, führt die Big Band Egypt 80 weiter, der noch immer etliche Musiker angehören, die schon zu Felas Zeiten dabei waren. Der ältere Sohn Femi, geboren 1962, formierte Ende der 80er Jahre sein eigenes Afrobeat-Orchester und hat inzwischen einen neuen «Shrine» erbaut. Die Veröffentlichung von Femis neuem und bisher bestem Album «Africa for Africa» fällt zusammen mit einer weltweiten Fela-Renaissance. Das Musical «Fela!», das am Broadway hervorragende Kritiken einheimste und sich zum Hit entwickelte, ist dieser Tage in London angelaufen. Alle offiziell veröffentlichten Alben von Fela sind soeben in einem Box-Set neu aufgelegt worden. Zudem steht derzeit ein Film über Felas Leben und Werk in Arbeit. Ensuite hat Femi Kuti in London zum Gespräch getroffen.
Noch nie hat ein Studio-Album von Ihnen so frisch und vital geklungen. Was haben Sie diesmal anders gemacht?
Der Grund dafür ist wohl eine Kombination von jahrelangem Üben, jahrelanger Hingabe an die Sache, und der Tatsache, dass wir das Album in Lagos aufgenommen haben. Mein Produzent Sodi und ich waren uns einig, dass wir diesmal in Nigeria arbeiten wollten statt – wie bisher üblich – in ein europäisches Studio zu sitzen, um innert drei Tagen in einer einzigen Hetzerei ein Album einzuspielen. Ich sagte zu ihm: «OK, Sodi, du kommst nach Nigeria, und wenn du ein Studio findest, wo man sicher gehen kann, dass die Anlagen gut genug sind und es keine Probleme mit der Elektrizität gibt, dann können wir das hier machen». Sodi schaute sich um und entdeckte das Decca-Studio. Wenn er ein paar Apparate aus Paris mitbringe, so meinte er, dann sei das Studio perfekt, es habe einen Generator und sogar einen Reserve-Generator. Ich konnte es kaum glauben, dass Decca noch existierte. Mein Vater hatte hier schon gearbeitet. 1989 waren meine eigenen ersten Aufnahmen hier entstanden. So haben wir uns dort also häuslich eingerichtet. Kaum aber legten wir los – bim! – ging das Licht aus. Hahaha! Und natürlich funktionierte einer der Generatoren nicht, und so mussten wir die Klimaanlage ausschalten. Schwitzend, frustriert und zornig sassen wir da. Diese Frustration und dieser Zorn sind es, die das Album antreiben.
Das Album klingt, als wenn sie im Studio ohne grosses Federlesen einfach losgeschlagen hätten.
So war es! Genauso fühlte ich mich. Ich wollte es aus mir hinausschreien: «BAD GOVERNMENT! WHO BEGGED YOU TO BE THE LEADER? WHY ARE YOU COMPLAINING THAT YOU’RE HAVING A DIFFICULT TIME BEING PRIME MINISTER? YOU ASKED TO BE PRIME MINISTER, SO STOP COMPLAINING! STOP STRESSING ME WITH ALL THE STRESS I ALREADY HAVE!”
Wieviel von den Texten ist improvisiert?
Nichts. Die Texte sind alle niedergeschrieben. Ich arbeite übrigens bereits am nächsten Album. Ich will dranbleiben, denn alle beschwerten sich, dass es nach «Live at the Shrine» zu lang gedauert habe, bis das nächste Studioalbum herauskam. «Bist du ein Faulenzer geworden?» wurde ich gefragt. Das hat mich echt getroffen. Also sagte ich mir: «OK, wenn ich früher fünf Stunden am Tag gearbeitet habe, so wird es ab sofort das Doppelte sein müssen.»
Das mit dem Faulenzer hat also nicht gestimmt?
Ha! Ganz und gar nicht! Mein Leben in Lagos war ein einziger Kampf. Ein Kampf gegen den Elektrizitätsausfall. Ein Kampf gegen die Armut. Viele Menschen beanspruchen meine Hilfe. Daneben führe ich «The Shrine». Ein Problem bestand darin, dass das restliche Musikgeschäft «Live at the Shrine» anders anschaute als ich. Für mich war das ein vollwertiges Album, einfach halt aufgenommen bei einem Konzert, nicht im Studio. Ich wollte zeigen, wie ein Publikum auf meine Musik reagiert, wie populär der Schrein ist, wie beliebt Fela, und welche Fortschritte wir gemacht hatten. Leider war es in den Augen anderer Leute kein richtiges Album, und so verlor ich den Plattenvertrag. Es dauerte eine Weile, bis ich einen neuen gefunden hatte.
Gibt es andere Beispiele dafür, wie Ihre künstlerischen Vorstellungen sich nicht mit den Erwartungen und den Gewohnheiten des Musikgeschäftes vertrugen?
Es ist der Wunsch von jedem Künstler, seine Musik am Radio zu hören und von einem grossen Publikum geschätzt zu werden. In meinen Augen statuierte mein Vater ein grosses Exempel. Seine Musik wurde nie am Radio gespielt. Aber im Underground gehörte er zu den Grossen. Jeder kannte ihn. Denn er blieb sich selber immer treu. Auch nach seinem Tod noch ist seine Präsenz sehr stark. Daraus kann jeder Musiker etwas lernen. So liess auch ich mich nicht aus der Ruhe bringen, als meine Musik nicht am Radio kam. Ich weiss, dass man in fünfzig Jahren trotzdem noch von meinen Alben reden wird. Darum kümmert es mich nicht, wenn Plattenfirmen einem Album wie «Live at the Shrine» nicht die Beachtung schenken, die es verdient hätte.
Die Musikindustrie steckt in der Krise. Niemand weiss, wie sich die Situation mit Internet und illegalen Downloads einpegeln wird. Welche Auswirkung hat diese Entwicklung in Afrika?
Das ganze Business stürzt zusammen. Wer früher zwanzig Millionen Alben verkaufte, kann sich glücklich schätzen, wenn es heute noch zwei Millionen sind. Wir müssen alle von vorn anfangen. Jeder muss sich neu überlegen, wie er seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Mein Vorteil ist es immer gewesen, dass ich mit einer Live-Band unterwegs war. So sind wir immer durchgekommen. Wir verdienen nicht einen Haufen Geld, aber genug für mich, meine Familie, meine Band und ihre Familien. Internet und Downloading berühren uns in Nigeria wenig. Viele junge Künstler werden von den Telephonfirmen und anderen Konzernen gesponsort. Sie geben viele Konzerte und werden gut bezahlt. Je mehr Leute deine Musik downloaden, desto populärer bist du, und desto grösser sind die Chancen, dass ein grosszügiger Sponsor anbeisst. Ich selber habe nie Millionen verkauft. Die CD-Verkaufsziffern haben mich nie besonders interessiert. Mir ging es darum, dass jedes Konzert ein gutes Konzert war. In Afrika ist es eh schon immer schwierig gewesen, Platten zu verkaufen, darum haben Musiker schon immer auf andere Einkommensquellen bauen müssen.
Ist mit dem Sponsorensystem nicht ein grosses Problem verbunden, nämlich das, dass solche Firmen wohl eher weniger einen Künstler unterstützen wollen, der mit kritischen Texten das poltische System angreift, welches mitgeholfen hat, diese Firmen reich zu machen?
Das stimmt wohl. Einer wie ich bekommt in Nigeria nie und nimmer einen Sponsor. Seit zehn Jahren habe ich in Nigeria nie mehr ausserhalb des Shrine gespielt – ausser im vergangenen Februar, als ein Freund ein Konzert für mich organisierte. Er sagte: «Du verrottest da drin in deinem Schrein, die Menschen im ganzen Land müssen dich sehen können!» Er hat mir eine schöne Gage gegeben und es war ein gutes Konzert. Aber im grossen Ganzen braucht man einen Sponsoren, um sowas auf die Beine stellen zu können. Zum Glück geniesse ich einen guten Namen in Europa und Amerika. So kann ich dort Tourneen unternehmen, und das hält mich über Wasser.
Könnte das bedeuten, dass in Nigeria bald keine politisch brisanten Songs mehr geschrieben werden?
Ich denke, das Establishment würde Leute wie mich liebend gern verschwinden sehen. Aber Europa und Amerika wird sowas nie zulassen. Die Menschen in Europa und Amerika verstehen besser, was Korruption bedeutet, und sie stürzen sich mit grösserem Einsatz als die Menschen in Afrika in den Kampf gegen die Ungerechtigkeit.
Wie stehen die Dinge in Nigeria heute? Hat es positive Veränderungen gegeben in den letzten zwanzig Jahren?
Nein. Das Land ist noch verlogener geworden. Das einzig Gute ist die Tatsache, dass man im Ausland besser informiert ist über die Zustände. Der Arbeit meines Vaters ist es zu verdanken, dass auch in Nigeria selber mehr Leute die Situation erfassen. Wenn ich über solche Dinge singe, kapiert das Publikum sofort, worum es geht. Wenn früher die Polizei losgeschickt wurde, um meinen Vater zu verhaften, dann tat sie das mit Vergnügen. Wenn man die Polizei heute schicken würde, mich zu verhaften, würde sie den Befehl wohl ausführen, aber selbst die beteiligten Polizisten hätten ein ungutes Gefühl dabei. Auch sie verstehen, worum es mir geht. Viele von ihnen sind Freunde von mir. Ich kenne sie von der Strasse her. Auch sie sind unterbezahlt, auch sie haben Kinder, auch ihre Kinder kommen nicht zu einer rechten Schulbildung, auch um sie kümmert sich der Staat nicht, auch sie müssen zuschauen, wie die reichen Regierungsleute ihre eigenen Kinder im Ausland ins Internat schicken, und wegen jeder kleinen Krankheit irgendwo in ein Privatspital in Amerika fliegen. Die Polizisten verstehen, wovon ich spreche. Und sie wissen, dass ich längst anderswo leben würde, wenn es mir darum ginge, reich und berühmt zu sein.
Waren Sie jemals versucht, in ein anderes Land zu ziehen?
Selbstverständlich war ich das. Manchmal wenn ich unterwegs bin möchte ich nur schlafen und vergessen, dass ein Land wie Nigeria überhaupt existiert. Möchte einfach keine Nachrichten mehr sehen. Möchte nicht an den Schmerz anderer erinnert werden. Aber dann wacht man auf und weiss, dass man ehrlich sein muss mit sich selber. Natürlich möchte ich ein friedliches Leben führen. Aber das ist unrealistisch. Ich muss mir selber treu bleiben. Deswegen kämpfe ich für den Frieden für alle.
Wenn Sie zum Beispiel nach Los Angeles ziehen würden, wäre es Ihnen sowieso nach zwei Tagen todlangweilig, oder?
Allerdings! Nur schon wenn ich auf Tournee bin geht es mir so. In Lagos gibt’s immer irgend etwas, das mir auf die Nerven geht und mich wach hält, haha! Hier in London kann ich endlos faulenzen, ich weiss gar nicht, was ich mit mir anstellen soll, und bald stellen sich die Depressionen ein. Wenn ich daheim bin und die Elektrizität wieder ausgeht, kann ich mich richtig echauffieren: «THIS IS SO WRONG!» (brüllt vor lachen). Ein alter Hund kann halt keine neuen Tricks lernen. Der Bau vom Shrine war ein guter Trick, mich an Nigeria zu fesseln, mich in Nigeria gefangenzuhalten. All die Dinge, an die ich schon als junger Mann geglaubt habe, sind im Shrine in Stein gemeisselt worden. Nichts kann mich mehr zum Weggehen verführen.
Ihr Vater ist heute ausserhalb von Nigeria bestimmt sehr viel besser bekannt als zu seinen Lebzeiten. Das bedeutet, dass Sie selber heute mehr denn je als «der Sohn von Fela» wahrgenommen werden statt als «Femi Kuti». Aergert Sie das?
Überhaupt nicht. Ich gehöre dem Kommitte an, das sich dafür einsetzt, dass seine Musik weiterhin gehört wird. Ich setzte mich dafür ein, dass seine Alben neu aufgelegt worden sind. Ich war es, der darauf bestand, dass wir alles unternehmen müssen, was in unseren Kräften steht, um sicherzustellen, dass er nicht stirbt. Er ist mein Vater. Ich liebe ihn. Ich bin stolz auf ihn. Stolz, dass er nie von seiner Linie abgewichen ist. Ich habe oft zuschauen müssen, wie sie ihn geschlagen haben. Musste ihn oft im Gefängnis besuchen. Ja, es hat mich als Kind geschmerzt, dass er kein konventioneller Vater war. Heute verstehe ich seine Handlungen. Es ist alles ein Teil unserer Familiengeschichte. Alles ein Teil der Geschichte von Afrika.
Als Sie damals die Band Ihres Vaters verliessen, um auf eigene Faust weiterzumachen, sprach er fünf Jahre lang nicht mehr mit Ihnen. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie nie im Leben einen schwierigeren Entschluss fassen mussten?
Das trifft wohl zu. Ich war zuvor sehr unglücklich. Mein Vater war ein Mensch wie wir alle. Er hatte nicht immer recht. Mit allem Respekt, den ich für ihn habe – die Art, wie ich aufgewachsen bin, finde ich falsch. Er hätte mir das Notenlesen und ‑schreiben beibringen sollen. Das hat er nicht gemacht. So musste ich es mir in harter Arbeit selber beibringen. Als ich Fela verliess, wusste ich nicht, ob ich es je auf einen grünen Zweig bringen würde, aber ich wusste, dass ich gehen musste. Ich war zornig genug, dass ich mir sagte: «Auch wenn sterbe wegen diesem Entschluss, muss ich ihn dennoch fassen». Es war die Art, wie ich erzogen worden war. Ich hatte gelernt, harte Entschlüsse allein zu fassen. Einige Jahre später fragte ich ihn: «Vater, warum hast Du mich nicht in die Schule geschickt?» Er sagte, er hätte gedacht, ich brauchte keine Bildung, um Erfolg zu haben. Dann wollte er mir einige Fragen stellen. «Sohn, bist Du erfolgreich?» Ja. «Bist Du berühmt?» Ja. «Verdienst Du Geld?» Ja. «Kannst Du Deine Familie ernähren?» Ja. «Bist Du zur Schule gegangen?» Nein. «Also, wo liegt denn da das Problem? Ich hatte recht!» Jaja, OK, er hatte halt recht. Wir haben gelacht und Frieden geschlossen. Aber es war schon schwer für mich. Ich würde meinen eigenen Sohn nie der emotionellen Tortur aussetzen, die ich als junger Mann durchzustehen hatte. Mein Vater glaubte, aus Gründen, die ich verstehe, mit mir ein Experiment riskieren zu müssen. Aus der Warte seines Kampfes gegen den Kolonialsmus und die Folgen davon hatte er das Gefühl, er müsse seinen Sohn als Exempel darstellen. Und er tat es. OK, es ist gut herausgekommen, aber das Risiko war gross.
Haben Sie beim Musical über sein Leben, «Fela!», in irgend einer Form mitgewirkt?
Nicht viel. Ich freute mich, dass das Musical am Broadway gezeigt wurde. Aber ich wollte, dass es den Weg nach Nigeria finden würde – nach Nigeria und in den Shrine. Es ist eine gute Sache, dass die Amerikaner das Stück zu sehen bekommen und uns so helfen, unser Erbe zu schützen. Es ist auch gut, wenn es in London Erfolg hat. Das verschafft unserem politischen Statement Nachdruck. Es stärkt uns in unserem Kampf. Aber das Stück muss noch immer nach Lagos kommen.
Und – wird es?
Es wird. Der Produzent Stephen Hendel hat es mir versprochen. Ich sagte zu ihm: «Ich will das Stück im Shrine sehen. Wenn ihr es nicht in den Shrine bringt, werde ich es mir nie anschauen». Erst nach unserem Handschlag bin ich ins Theater gegangen. Und ich bin sehr, sehr, sehr froh, dass ich es gesehen habe. Ich habe geweint, geweint, geweint, geweint und geweint wie ein grosses Baby. Es hat mich ganz in die alte Zeit zurückversetzt, aye, aye, aye, aye, ist das ein starkes Stück!
- Femi Kuti, «Africa For Africa» (Wrasse Records)
- Fela Kuti, 3 Box sets with nine discs each, and a box set containing all Fela’s officially released albums (all Wrasse)
Foto: zVg.
ensuite, Dezember 2010