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Feministische Chemie

Von Dr. Reg­u­la Stämpfli - Deutsche Über­set­zun­gen aus dem Amerikanis­chen sind fürchter­lich. Wirk­lich entset­zlich. Aus­nah­men bestäti­gen die Regel: TC Boyle, Jef­frey Eugenides, Shoshana Zuboff, Yuval Noah Harari, Agnès Poiri­er sind grossar­tig trans­lat­ed. Aber die meis­ten Besteller-Fic­tions auf Deutsch? Schreck­lich. Unles­bar.

Jonathan Franzen behauptete ein­mal, die deutsche Lit­er­atur hätte ihn zum Schrift­steller, ja eigentlich zum Men­schen gemacht. Seine Büch­er sind schon auf Englisch keine leichte Kost, im Deutschen machen seine Sätze oft schlicht keinen Sinn. Beispiel gefäl­lig? Hier der Auf­takt zu «Cross­roads»: «Der von kahlen Eichen und Ulmen durch­broch­ene Him­mel, an dem zwei Fron­tensys­teme die grauen Köpfe zusam­men­steck­ten, um New Prospect weisse Wei­h­nacht­en zu bescheren, war voll feuchter Ver­heis­sung, als Russ Hilde­brandt wie jeden Mor­gen in seinem Ply­mouth-Fury-Kom­bi zu den Bet­tlägeri­gen und Senilen der Gemeinde fuhr.» Im Englis­chen begin­nt der Roman so: «The sky bro­ken by the bare oaks and elms of New Prospect was full of moist promise, a pair of frontal sys­tems gray­ly col­lud­ing to deliv­er a white Christ­mas, when Russ Hilde­brandt made his morn­ing rounds among the homes of bedrid­den and senile parish­ioners in his Ply­mouth Fury wag­on.»

Hier ist man sofort in die Szene und die Land­schaft gewor­fen: «Es ent­blät­tert sich ein Him­mel, der durch kahle Eichen und Ulmen durch­scheint. Weisse Wei­h­nacht­en liegen in der Luft, als Russ Hilde­brandt seine Lim­ou­sine, eine Ply­mouth Fury aus­fährt, um nach den Bet­tlägeri­gen und Senilen sein­er Pfar­rei zu schauen.» Alles andere ist ein Gewürge – doch ganz ehrlich? «Cross­roads» bleibt auch nach dem ersten Satz eigentlich unles­bar. Doch den Deutschen scheinen die grot­ti­gen Über­set­zun­gen nichts auszu­machen. Groteske Gram­matik­mon­ster über­all. Im deutschen Kino ver­miesen ewig gle­iche Syn­chron­stim­men, kul­turelle Set­zun­gen den US-amerikanis­chen, oft jüdisch abgründi­gen Witz. Aus Action­heldin­nen wer­den Haus­frauen, aus Ver­führern selb­st­mitlei­di­ge Los­er. Diese Ein­sprachigkeit prägt auch die Poli­tik – per­fekt nachzule­sen im «offe­nen Brief» der bald 80-jähri­gen Alice Schwarz­er und ihrer Unter­stützer, u. a. Lars Eidinger und der 90-jährige Alexan­der Kluge: «Wir teilen auch die Überzeu­gung, dass es eine prinzip­ielle poli­tisch-moralis­che Pflicht gibt, vor aggres­siv­er Gewalt nicht ohne Gegen­wehr zurück­zuwe­ichen. Doch alles, was sich daraus ableit­en lässt, hat Gren­zen in anderen Geboten der poli­tis­chen Ethik.» Dazu meint Sozi­ologe Armin Nasse­hi in einem neun­teili­gen Thread, dass es eine Unge­heuer­lichkeit sei, moralis­che Nor­men per se als «uni­versell» zu deklar­i­eren: «Deren Begrün­dun­gen kön­nen uni­ver­sal­is­tisch sein, doch eine moralis­che Norm ist nie per se uni­ver­sal.» Der deutschen Nachkriegssprache fehlt die Beweglichkeit in Lit­er­atur, Wis­senschaft und Kun­st. Sie ver­fasst Werbeslo­gans wie «Geiz ist geil» oder Floskeln wie «Wir schaf­fen das». Was ist nur aus dem Sprach­witz gewor­den? Selb­st «Boset­ti will reden» (immer im Anschluss an Jan Böh­mer­mann auf der ZDF-Mediathek abruf­bar) ist so trock­en, dass die Worte im Halse steck­en bleiben und nur ein Nick­en bleibt.

«Eine Frage der Chemie» ist seit vier Wochen auf der Best­sellerliste des «Spiegels». Die Über­set­zung des ersten Satzes – glück­licher­weise wird die Sprache im Ver­lauf des Textes bess­er – ist eine Katas­tro­phe. «For my moth­er, Mary Swal­low Gar­mus» ste­ht im Orig­i­nal. Im Deutschen: «Für meine Mut­ter Mary Swal­low Gar­mus» mit dem Hin­weis: «Mom, bitte entschuldige die vie­len Kraftaus­drücke. Ich habe eine ganze Rolle Viertel­dol­lar­münzen in die Fluchdose getan.» Ich bitte Sie: Wenn schon über­set­zen, wie wäre es mit: «Werte Mama, vergib mir die Schimpfwörter und ja, ja – das Sparschwein ist schon voll.» Lit­er­atur muss klin­gen, fliessen, pack­en: Mit Denglisch stiehlt sie nur Leben­szeit.

«Eine Frage der Chemie» ist fabel­haft, wirk­lich klasse, gute Unter­hal­tung – auf Englisch. Wir fall­en direkt ins Jahr 1961 in die Haus­frauen­hölle der Nach-1950er-Jahre, Sub­ur­bia lässt grüssen. Die Pro­tag­o­nistin, deren hochbe­gabte Tochter ins Lunch­paket so Zettel kriegt wie: «Nein, du bildest dir nichts ein. Die meis­ten Men­schen sind schreck­lich», ist mit 31 Jahren überzeugt davon, dass ihr Leben been­det ist. Das Ameri­ka der 1950er-Jahre – bis in die Knochen in Evan­ge­lis­mus getränkt – erstickt seine Frauen in einem Haus­frauenko­rsett, das die meis­ten auch im 21. Jahrhun­dert noch tra­gen.

Die Autorin dieses Best­seller­ro­mans, Bon­nie Gar­mus, zarte 64 Jahre, trifft mit ihrem Erstling unsere Zeit. Gar­mus – ein Autoren­name, dessen Geschlecht auf den ersten Blick uniden­ti­fizier­bar ist und deshalb auch die Formel für Erfolg darstellt – fik­tion­al­isiert ein Frauen­leben der Nachkriegszeit mit Lehren fürs 21. Jahrhun­dert: Das Buch ist ein wun­der­bar lustiges Plä­doy­er für Intel­li­genz, Witz und Fem­i­nis­mus unter widri­gen Umstän­den. Die Sto­ry wird momen­tan von Apple TV zur Serie umgeschrieben – hof­fentlich bleibt der witzige athe­is­tis­che Touch eben­so drin wie die sub­tile Mes­sage, dass die 1950er und 1960er von dama­li­gen Frauen ganz anders erfahren wur­den, als wir dies ständig über­liefert kriegen.

«Eine Frage der Chemie» wird vom deutschen Feuil­leton als humoris­tis­ches, pop­ulär­fem­i­nis­tis­ches Unter­hal­tungs­buch gefeiert, was dem Roman nicht gerecht wird. Der Roman, tausend­mal klar­er, hell­sichtiger als die Män­nerepen der Knaus­gårds und Franzens, ist witzig, poet­isch und befreiend – wenn nur die deutsche Über­set­zung etwas bess­er wäre.

«Lessons in Chem­istry» ist auch ein Buch über und für hochbe­gabte Frauen. Hochbe­gabte sind ungeduldig, auf­brausend, entset­zlich arro­gant, weil sie ein­fach nie begreifen kön­nen, warum die meis­ten Men­schen um sie herum nicht kapieren, was sie schon längst wis­sen. Hochbe­gabte Men­schen sind nach­tra­gend, wenn ihnen ihre Zukun­ft von kleinen Geis­tern ver­baut wird. Hochbe­gabte Frauen sind immer wütend: auf die patri­ar­chale Gesellschaft, darauf, dass die Män­ner, obwohl sie es bess­er wis­sen soll­ten, NIE zuhören. Hochbe­gabte kön­nen es nicht ausste­hen, wenn eine Pan­demie alle bish­eri­gen Muster durch­bricht und die Poli­tik­er wie die Experten – auch hier dominieren immer noch die Män­ner – so tun, als wäre nichts passiert. Deshalb gibt es kein bedin­gungs­los garantiertes Grun­deinkom­men, deshalb sind die Städte noch nicht grün, deshalb kann Putin während Wochen Krieg führen und seine Sol­dat­en Frauen massen­verge­walti­gen lassen und deshalb kön­nen Alice Schwarz­er und Alexan­der Kluge allen Ern­stes behaupten: «Krieg hat noch nie Frieden gebracht» – als ob nicht aus­gerech­net sie, die nicht jüdis­chen Deutschen, wis­sen wüssten, dass NUR Krieg Deutsch­land Frieden, Demokratie und Gle­ich­stel­lung brin­gen kon­nten: Sich sel­ber über­lassen hätte dieses Land mit dem indus­triellen Massen­mor­den nie aufge­hört.

Hochbe­gabte ner­ven sich, wenn Min­der­be­gabte Pro­duk­te entwick­eln, die für den Ein­tages­ge­brauch konzip­iert sind und die Welt in einen Müll­haufen ver­wan­deln: ein Zus­tand, vor dem die Hochbe­gabten schon in den 1980er-Jahren gewarnt haben. Hochbe­gabte wer­den glühend aggres­siv, wenn Män­ner und deren Mit­tä­terin­nen Geset­ze ver­fassen, die Frauen wieder ins 19. Jahrhun­dert der Unsicht­barkeit kat­a­pul­tieren wollen. Hochbe­gabte verzweifeln, wenn die Bur­ka von Durchgek­nall­ten mit dem weib­lichen Acces­soire ein­er Per­len­kette gle­ichge­set­zt wird. Hochbe­gabte bleiben wütend, weil sie Forschungsreisen, Utopi­en und die Demokratisierung nur im Kopf unternehmen kön­nen, weil sie von Min­der­be­gabten bei der Umset­zung in der Wirk­lichkeit ständig gestört wer­den. Hochbe­gabte ver­fassen Vor­lesun­gen, Pod­casts, Artikel, Büch­er, ziehen Forschung­spro­jek­te durch, wohl wis­send, dass ihnen hun­dert Jahre später Strassen, Städte, Museen gewid­met wer­den, qua­si als Wiedergut­machung für die Unter­drück­ung während ihrer Leben­szeit. Ein schwach­er Trost angesichts dessen, was die Hochbe­gabten für die Zukun­ft, würde man sie denn mal lassen, alles hät­ten leis­ten kön­nen.

Hochbe­gabte lesen Gar­mus und greifen bei der Verzwei­flung angesichts der wichtige Posi­tio­nen beset­zen­den Min­der­be­gabten zu «A Rev­o­lu­tion­ary Guide for Lib­er­at­ing Every­day Genius» von Mary-Elaine Jacob­sen: «I have been crit­i­cized for being ‹too much› of just about every­thing» und «I have a well-devel­oped sense of humor that is some­what off­beat» und «It’s like the rest of the world is mov­ing along at twen­ty-four frames per sec­ond, nor­mal film speed, but to me that’s slow motion. (…) It’s more like the world’s a blender on stir and I’m on liq­ue­fy» ver­mö­gen alle Hochbe­gabten nicht nur zu trösten, son­dern daran zu erin­nern, dass es halt so ist, wie es ist, und anzutreiben, trotz dieser Widrigkeit­en weit­erzu­machen. Hochbe­gabte müssen damit leben, dass sie über 100 Jahre später als das erkan­nt wer­den, was sie schon immer waren: zu früh, zu viel und zu weit.

Bon­nie Gar­mus: Lessons in Chem­istry. A nov­el. ISBN: 978–0857528131

A Rev­o­lu­tion­ary Guide for Lib­er­at­ing Every­day Genius by Mary-Elaine Jacob­sen.
ISBN 978–0345434920

Artikel online veröffentlicht: 19. Juli 2022